Herr Professor Sinn, die Euro-Krise spitzt sich zu, die Angst vor Staatspleiten wächst - gleichzeitig brummt die Konjunktur. Wie passt das zusammen?
Sinn: Die Konjunktur brummt wegen der Krise.
Das müssen Sie uns erklären.
Sinn: Nach Einführung des Euro haben Banken und Versicherungen die Ersparnis der Deutschen der inländischen Verwendung entzogen und ins Ausland getragen. Dort hofften sie, höhere Renditen erzielen zu können. Diese Phase ist vorbei. Wer jetzt Geld im Ausland anlegt, muss Angst haben, es nicht wiederzubekommen. Der Markt für griechische Staatsanleihen ist genauso pulverisiert wie der für strukturierte amerikani-sche Immobilienpapiere. Da die Kapitalanleger wieder deutsche Anlagen suchen, geht bei uns jetzt die Post ab.
Waren die Klagen der vergangenen Jahre über die Standortnachteile Deutschlands übertrieben?
Sinn: Nein, weiß Gott nicht. Von 2002 bis 2010 exportierte Deutschland insgesamt 1050 Milliarden Euro Kapital ins Ausland, das waren ziemlich genau zwei Drittel der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis. Dieser Kapitalabfluss hat Deutschland in die Flaute getrieben, die Löhne gedrückt und das Land einer Zerreißprobe ausgesetzt. Hätten wir dieses Geld in dieser Zeit in Deutschland investiert, wäre ein proper Land entstanden.
Aber haben wir nicht wegen unserer Exportüberschüsse am meisten vom Euro pro-fitiert? Das sagen die französische Finanzministerin Christine Lagarde und auch Fi-nanzminister Wolfgang Schäuble.
Sinn: Beide verkennen, dass der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands nicht nur definitorisch dem Kapitalexport gleich ist, sondern in den letzten Jahren tatsächlich durch den Kapitalexport bewirkt wurde. Der Kapitalabfluss brachte die Flaute. Er drückte die Nettoinvestitionen auf das niedrigste Niveau aller OECD-Staaten und mach-te uns neben Italien zum Schlusslicht beim Wachstum. Die Flaute hielt die Importe zu-rück. Außerdem reduzierte sie die Lohn- und Preissteigerungsraten, was uns im Ver-hältnis zum Ausland immer billiger machte und die Exporte beflügelte. Der Exportüber-schuss folgte aus der Standortschwäche.
Hat nicht die Stärke unserer Exportwirtschaft der Flaute ein Ende gemacht?
Sinn: Der Güterexport hat geholfen, die für die Kapitalexporte nötigen Überschüsse in der Leistungsbilanz zu erzeugen. Hätte die ganze Anpassung über die Importe laufen müssen, wäre die Flaute noch viel stärker ausgefallen. Auch im jetzigen Boom hilft uns der Güterexport. Der Außenhandel ist aber weniger wichtig, als viele denken. Die deut-sche Wirtschaft wächst dieses Jahr um etwa 3,7 Prozent. Diese Zahl wird nur zu einem Viertel vom Außenhandel erklärt, der ganze Rest ist Binnennachfrage, vor allem nach Investitionsgütern. Die Banken sind heute wieder bereit, mehr Kredite im Inland zu ver-geben, weil sie die Risiken im Ausland höher einschätzen.
Die Unternehmen investieren doch nicht, weil sie Kredite bekommen, sondern weil sie künftige Absatzchancen sehen.
Sinn: Klar. Aber wo sie investieren, hängt von der Standortqualität ab. Heute profi-tiert Deutschland von den im Vergleich zu anderen Ländern gesunkenen Löhnen und den Zinsunterschieden zum Ausland.
Statt sich darüber zu freuen, haben die Deutschen Angst, im Zuge der Schuldenkrise könne es zu einem Schock wie nach der Lehman-Pleite kommen.
Sinn: Wegen Lehman kann sich der Lehman-Gau nicht wiederholen. Nachdem im Herbst 2008 der Interbankenmarkt zusammengebrochen war, haben die Staaten Ret-tungspakete im Umfang von 4900 Milliarden Euro geschnürt und versprochen, keine systemrelevante Bank mehr pleitegehen zu lassen. In Deutschland hält der Soffin noch 50 Milliarden Euro als Eigenkapitalhilfen bereit. Die Befürchtung, es könne eine neue Welle von Bankpleiten geben, ist also nicht begründet.
Stattdessen drohen nun Staatspleiten?
Sinn: Die Regierung in Dublin hat gegenüber den Banken ein Rettungsversprechen gegeben, das sich auf das Zweieinhalbfache des Sozialprodukts beläuft. Damit hat sich der Staat freiwillig entschlossen, angesteckt zu werden. Solche Ansteckungen werden auch durch die Rettungssysteme erzeugt. Wenn wir jetzt für Spanien und Italien Ret-tungsschirme aufspannen, übernehmen wir eine Haftung, die unsere Leistungsfähigkeit übersteigt. Je mehr Rettung man verspricht, desto mehr lässt man sich in den Strudel mit hineinziehen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gerade erklärt, niemand in Europa werde fallen gelassen...
Sinn: ...und damit hat sie Hoffnungen auf weitere Bail-outs geweckt. Das ist der falsche Weg. Man müsste eher Brandmauern einziehen, um sich gegen Ansteckungen zu schützen.
Wie können wir das vermeiden?
Sinn: Das geht nur, indem wir die Rettungspakete nicht aufstocken und klarmachen, dass wir nicht vor Insolvenz, sondern allein vor Illiquidität retten. Nur Letzteres ist die Aufgabe des ESM, des neuen Europäischen Stabilitätsmechanismus. Die Vorstellung ist, dass ein Land mit temporären Zahlungsschwierigkeiten mittelfristig wieder auf die Beine kommt. Dafür reicht ein Rettungsschirm, der wesentlich kleiner ist als das, was wir jetzt haben. Wenn man aber Länder, die sich übernommen haben, vor der Insolvenz schützen will, dann reicht natürlich der Schirm nicht aus.
Die Banken argumentieren, im Fall einer staatlichen Insolvenz drohe ein Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems.
Sinn: Wir können deswegen doch nicht die Schulden anderer Länder übernehmen und selbst zurückzahlen. Italien hat genauso viele Schulden wie wir auch. Das stemmen wir nie.
Die Finanzstabilität wäre durch einen Forderungsausfall nicht bedroht?
Sinn: Jedenfalls nicht mehr, als wenn wir für große Länder direkt haften müssen. Wie gesagt, die Rettungspakete für die Banken stehen noch, das hilft bei Zahlungs-schwierigkeiten kleinerer Länder zuverlässig gegen Bankpleiten. Vor einer Beteiligung der Banken sollte man deshalb keine Angst haben. Die Märkte haben den Haircut ohne-hin bereits antizipiert. Griechische Staatsanleihen aus 2006 haben einen Marktwert von weniger als 70 Prozent des Nennwertes, Papiere aus Irland liegen bei 75 Prozent. Wenn wir da eine unbedingte Rettung verkünden, springen die sofort auf 100 Prozent. Wer jetzt kauft, macht im Fall einer Rettung bis zu 50 Prozent Gewinn. Das ist für die Ban-ken eine schöne Sache, aber es führt zu einer massiven Destabilisierung der Märkte, wenn auch nach oben.
Die Banken jammern dennoch.
Sinn: Die sollen sich mal schön bedeckt halten, denn bislang haben sie keine Ver-luste gemacht. Die Banken haben ja auch Staatspapiere von solideren Staaten wie Deutschland oder Frankreich, deren Kurse kräftig gestiegen sind. Die Wertzuwächse dieser Papiere sind doppelt so hoch wie die Verluste bei den Anleihen der Problemlän-der.
EZB-Präsident Jean-Claude Trichet sorgt sich dennoch um die Stabilität der Märkte und drängt die Politik zu mehr Engagement bei der Staatenrettung.
Sinn: Bislang zeigt sich diese Instabilität nur in den Zinsspreizungen, und diese sind, außer bei Griechenland, noch kein Grund zur Beunruhigung. Im Gegenteil: Es ist doch gut, dass die Kapitalmärkte erkennen, dass es unterschiedliche Länderrisiken gibt und darauf mit unterschiedlichen Zinsforderungen reagieren. Die Folge ist zwar, dass die Vertreter der unsolide wirtschaftenden Länder im EZB-Rat in Panik geraten, weil die hohen Zinsen ihre Regierungen Geld kosten. Aber es ist nicht Aufgabe der EZB, deren Zinskosten niedrig zu halten.
Hat die EZB durch den Kauf von Staatspapieren ihre Unabhängigkeit verloren?
Sinn: Die EZB betreibt damit keine Geldpolitik, sondern einen fiskalischen Bail-out. Damit steht die EZB nicht mehr in der Tradition der Deutschen Bundesbank. Jetzt braucht sie eine Kapitalerhöhung, um die Verluste aus den griechischen Wertpapieren abzudecken.
Lässt sich der Euro denn ohne Bail-out-Aktionen retten?
Sinn: Nein. Aber die Banken müssen an den Lasten beteiligt werden. Insbesondere sollten sie im Fall Griechenlands schon heute auf einen Teil ihrer Forderungen verzich-ten. Griechenland hat Staatsschulden von 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und geht mit Riesenschritten gegen 200. Das Land ist pleite, und je eher man das zugibt, desto eher kann man einen Neuanfang wagen. Das Hauptproblem ist das Leistungsbi-lanzdefizit von elf Prozent vom BIP. Ich weiß nicht, wie man das je wegbringen will, ohne dass radikale Schritte getan werden, die über die heutige Vorstellungskraft der Politik hinausgehen.
Und Irland?
Sinn: Irland ist ein reiches Land, und sein Außenhandelsdefizit ist minimal. Das Land könnte die Steuern erhöhen. Die Abgabenlast in Prozent des Bruttoinlandspro-dukts liegt in Irland elf Prozentpunkte niedriger als bei uns. Wenn Irland diese Lücke durch mehr Lohnsteuern und eine Mehrwertsteuererhöhung schließt, kann es Zinsen auf eine Staatsschuld von 200 Milliarden Euro finanzieren. Die Bankenkrise kostet sie ge-rade einmal ein Viertel davon. Mit einer moderaten Steuererhöhung von zwei bis drei Prozent des BIPs könnten die Iren ihre Probleme selbst lösen.
Was halten Sie davon, dass Deutschland zur D-Mark zurückkehrt?
Sinn: Wenn überhaupt ein Land ohne größere Verwerfungen aus dem Euro-Raum austreten kann, dann ist es Deutschland. Aber dieser Schritt würde den europäischen Einigungsprozess zerstören und in anderen Ländern zu Turbulenzen führen. Anleger dort würden in die D-Mark flüchten, und das würde in diesen Ländern Bank Runs aus-lösen. In Deutschland würde die Aufwertung der D-Mark die mühsam erarbeiteten Vor-teile bei der Wettbewerbsfähigkeit zunichte machen. Hinzu kommt, dass der Euro auch Vorteile gebracht hat: Er reduziert die Transaktionskosten und bewahrt uns vor Wech-selkursschwankungen. Er ist ein logisches Stück Integration des europäischen Raums. Das sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Auch dann nicht, wenn die Alternative eine kostspielige Transferunion ist?
Sinn: 20 Milliarden Euro pro Jahr würde ich nicht zum Anlass nehmen, auszutreten. Wir zahlen ja 60 Milliarden Euro für die neuen Bundesländer - und das waren schon einmal 80 Milliarden. Nur wenn man uns zwingen wollte, die vorhandenen Staatsschul-den der südeuropäischen Länder zu übernehmen, dann sollten wir lieber austreten. Aber so weit sind wir zum Glück nicht.
Sinn, 62, leitet seit 1999 das ifo Institut für Wirtschaftsforschung, ist Direktor des Center for Economic Studies (CES) und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Handschuch, Konrad
Fischer, Malte