Glaubt man der Regierung, dann verschwindet die Arbeitslosigkeit womöglich bald fast automatisch - es wachsen immer weniger Arbeitskräfte nach. Dürfen wir wieder auf Vollbeschäftigung hoffen?
Hans-Werner Sinn: Das wäre äußerst gewagt. Wenn eine Gesellschaft schrumpft, sagt das noch fast nichts über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit aus - und erst recht nichts Positives.
Wieso sollte das Kalkül "Weniger Arbeitskräfte - weniger Arbeitslose" nicht aufgehen?
Sinn: Es gibt ja keinen festen Arbeitskuchen. Arbeitsverhältnisse sind Beziehungen zwischen Menschen, solchen, die die Dispositionsbefugnis haben, und anderen, die sich sagen lassen, was zu machen ist. Erstere sind die Unternehmer und Manager, Letztere die Arbeitnehmer. Da man nicht weiß, wer schneller verschwindet, weiß man auch nicht, ob die Arbeitslosigkeit steigt oder fällt. Da Unternehmer bei der Gründung im Schnitt 35 Jahre alt sind, vermute ich, dass sie eher knapp werden und die Arbeitslosigkeit insofern steigen würde.
Außer es würden bald mehr 40- bis 50-Jährige ihr Glück als Gründer suchen. Immerhin hätten die dann weniger Wettbewerbsdruck ...
Sinn: Sicher ist nur, dass künftig auch noch wachsende Soziallasten zu tragen sind. Denn selbst bei einem allmählich steigenden Renteneintrittsalter wird sich die Relation zwischen Arbeitskräften und Sozialleistungsbeziehern auf absehbare Zeit weiter verschlechtern. Und steigende Soziallasten treiben die Arbeitskosten hoch - das vernichtet Arbeitsplätze, wenn es nicht die Nettolöhne senkt. Es ist naiv zu meinen, in einer alternden Gesellschaft müsse die Arbeitslosigkeit sinken. Viel eher gilt das Gegenteil.
Fachkräfte sind aber schon knapp. Werden die Unternehmen dann nicht von selbst mehr tun, um Arbeitslose zu qualifizieren?
Sinn: Den empfundenen Fachkräftemangel gibt es nicht aus demografischen Gründen, sondern wegen des Wirtschaftsbooms, von dem Deutschland nach der Finanzkrise profitiert. Wenn ab 1. Mai die volle EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt, wird der Fachkräftemangel beginnen, sich in Luft aufzulösen. Hunderttausende wohlausgebildete polnische Arbeitskräfte haben zur Zeit des Baubooms in Spanien und Großbritannien gezeigt, wie mobil sie sind. Nach Spanien gingen in zehn Jahren sechs Millionen Immigranten. Da viele der ehemaligen Immigrationsländer heute in einer hartnäckigen Dauerflaute stecken und unter einer Massenarbeitslosigkeit leiden, werden die Migranten sich umorientieren. Viele werden nach Deutschland kommen.
Ist die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dann etwa ein Fehler?
Sinn: Nein. Deutschland wird von der Immigration profitieren. Wer nicht arbeiten wollte, durfte ja bislang schon kommen. Nun kommen auch die Arbeitnehmer. Das kann nur gut sein. Wir brauchen keine Kostgänger des Sozialsystems, sondern Leute, die helfen, es zu finanzieren.
Creutzburg, Dietrich