Professor Sinn, nach dem Euro-Gipfel ist die Euphorie groß. Ist Europa jetzt gerettet?
Die Kapitalmärkte sind euphorisch. Aber das bedeutet nichts Gutes für die Steuerzahler. Sie zahlen jetzt für die Banken.
Europa ist also nicht gerettet?
Man hat die Gefahren nur verlagert. Kleiner geworden ist die Gefahr, dass Griechenland die Bankenwelt mit seiner Malaise ins Wanken bringt. Größer geworden ist jedoch die Gefahr der Ansteckung über die Staatsbudgets: dass die Schulden Griechenlands und anderer Krisenländer im Endeffekt über den Rettungsfonds auf uns zurückfallen.
Für die Banken ist die Lösung aber gut? Es hieß doch, sie müssten einen Beitrag leisten.
Die sogenannte Gläubigerbeteiligung ist eine Farce. Schon der Begriff zeigt eine gewisse Verwirrung der Diskussion. Die Frage ist doch nicht, ob die Gläubiger beteiligt werden, sondern ob die Steuerzahler beteiligt werden.
Wieso?
Es handelt sich bei Staatsanleihen um einen privatwirtschaftlichen Vertrag zwischen privaten Gläubigern und Staaten. Wenn die Staaten nicht zurückzahlen können, hängen die Gläubiger drin. Da stellt sich vielleicht die Frage, ob die Steuerzahler den Gläubigern aushelfen und sich beteiligen sollen. Aber nicht, ob man die Gläubiger beteiligen soll - so, als könnte man sie vielleicht auch nicht beteiligen.
Und werden sie nun substantiell beteiligt?
Sie bekommen jetzt 80 Prozent des Nennwertes, obwohl die Papiere am Markt nur noch 50 Prozent wert sind. Das hat bereits ein Kursfeuerwerk ausgelöst.
Die Banken sind also aus dem Schneider. Aber es gibt Probleme für die deutschen Steuerzahler?
Die griechischen Papiere sollen um 15 bis 30 Jahre verlängert und vom Steuerzahler garantiert werden. Wissen Sie, ob Griechenland dann zurückzahlen kann? Irgendwann wird ein Schuldenerlass nötig, für den der deutsche Steuerzahler dann haften muss. Aber es kommt noch schlimmer.
Was ist denn so schlimm?
Das Geld des Rettungsfonds soll nun auch schon präventiv zur Kurspflege bei den Staatspapieren eingesetzt werden. Der Fonds darf sein Geld demnächst nicht mehr nur im Notfall ausgeben für Länder, die Auflagen bekommen, wie Griechenland. Er darf jetzt auch vorbeugend Staatsanleihen am Markt kaufen, wenn deren Kurse und Zinsen aus dem Ruder laufen. Es geht hier wohl um Italien. Der IWF muss nicht mehr mithelfen, und der Fonds hat bei Pleiten auch keinen Vorrang vor privaten Gläubigern mehr. Für den vorbeugenden Aufkauf der Altschulden von Ländern, deren Zahlungsfähigkeit gar nicht bedroht ist, wird sehr viel mehr Geld benötigt. Bald wird man also den Fonds aufstocken müssen. Die Beschlüsse von Donnerstag begründen den Weg in den Schuldensozialismus.
Ohne solche Maßnahmen versänke Europa in der Schuldenkrise, sagen manche.
Das Gegenteil ist der Fall. Denken wir es doch einmal durch. Warum hat denn Italien gerade ein großes Sparprogramm verabschiedet? Weil es durch hohe Zinsen für seine Staatspapiere zum Handeln gezwungen war. Über die Schuldengrenzen aus Brüssel hat man gelacht, die Märkte nimmt man ernst. Aber vor denen muss man jetzt keine Angst mehr haben.
Warum nicht?
Wenn es brenzlig wird, haftet Deutschland ja mit. Durch die Anleiherückkäufe des Rettungsfonds werden die Zinsen in Europa egalisiert. Jeder Staat Europas kann sich nach Belieben verschulden, ohne durch höhere Zinsen bestraft zu werden. Überall wird dann die Neigung zunehmen, Schulden zu machen. Das ist der Weg ins Verderben.
Sind das schon die Eurobonds?
Fast. Die Einschränkung liegt jetzt nur noch beim Volumen des Rettungsfonds, das für solche Zwecke eingesetzt werden kann.
Was bedeutet das für den deutschen Steuerzahler?
Wir verschenken unsere Bonität. Wir vergemeinschaften die Schulden und kommen auf ein Durchschnittsniveau bei den Zinsen. Das hilft den Ländern, die hohe Zinsen haben, und es schadet Deutschland. Bei einer vollsozialisierten Haftung müsste der deutsche Staat allein 25 Milliarden Euro im Jahr an zusätzlichen Zinsen zahlen - doppelt so viel, wie Deutschland jetzt an die EU-Länder zahlt. Dazu kommt die Haftung im Fall von Staatskonkursen. Vor allem aber würde Deutschland sein vom Zins getriebenes Wachstum, durch das es zur Konjunkturlokomotive Europas wurde, kaputtmachen.
Es gibt eine Menge Leute, die sagen: Das ist es uns wert. Wir wollen eine Transferunion, denn wir sind europäische Patrioten.
Das sehe ich anders. Schon der deutsche Finanzausgleich ist ein Problem. Die Eurozone ist dafür viel zu inhomogen, undiszipliniert und undemokratisch.
Ist es nicht gut, dass wir Griechenland helfen?
Es geht nicht um die grundsätzliche Frage, sondern das Ausmaß. Die Summen haben jedes vertretbare Maß überschritten. Deutschland hat nicht die Kraft, diese ganzen Belastungen für Griechenland und andere Staaten zu tragen. Wenn die deutschen Babyboomer, die heute Mitte vierzig sind, ihre Rente haben wollen, wird es sehr eng werden. Aber das ist die Zeit, zu der die jetzt übernommenen Schulden und Garantien fällig werden könnten. Die Politiker sind dann nicht mehr im Amt, aber die Gesellschaft trägt die Konsequenzen ihrer Beschlüsse.
Was für Konsequenzen sind das?
Dann werden die Rentner zur Kasse gebeten, Transfers werden reduziert. Der Sozialstaat kann nicht mehr in vollem Umfang finanziert werden, und die Steuern steigen. Dabei wird die arbeitende Bevölkerung sowieso schon unter den Rentenlasten ächzen. Die Vermögen werden besteuert, und diejenigen, die etwas auf die hohe Kante gelegt haben, bekommen es zum Teil weggenommen. Der Verteilungskonflikt ist programmiert.
Es könnte auch ein großer europäischer Konflikt entstehen?
Ja, die Gefahr besteht.
Könnte Europa an dieser Frage zerbrechen?
Auch das ist möglich.
Sehen Sie sich eigentlich selbst als Europäer? Oder in erster Linie als Deutscher?
Ich bin ein glühender Europäer, der seinen Amtseid auf die deutsche Verfassung geschworen hat. Ich gehöre zu der Generation, die die Zeit der Kriege und Auseinandersetzungen durch ein gemeinsames Europa glaubte überwinden zu können. Ich glaube das immer noch. Ich halte den Euro für notwendig. Und ich sehe am Horizont auch so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa. Aber wir müssen Realisten bleiben. Es gibt sehr viele Fehlentwicklungen auf diesem Weg. Und wenn es in die falsche Richtung gegangen ist, dann muss man innehalten und überlegen, was man hier eigentlich tut.
Manche Leute sagen: Wer keine Eurobonds will, ist kein guter Europäer.
Das ist ein Totschlagargument. Bist du nicht für meine Vorstellung von Europa, bist du gegen Europa. Das erinnert mich an die DDR. Da hieß es: Entweder du bist für den Sozialismus oder für Krieg.
Das sind also nur vorgeschobene Argumente, um andere mundtot zu machen?
Wer so redet, hat keine Argumente. Es geht doch um den richtigen Weg für Europa. Wie schaffen wir ein stabiles Europa, das nicht im Schuldensumpf ertrinkt? Europa zu einem teilsozialistischen System zu machen, in dem die Staatsschulden vergemeinschaftet sind, das ist mit Sicherheit der falsche Weg.
Für Europa klingt das alles ziemlich deprimierend. Ist denn wenigstens Griechenland jetzt gerettet?
Erst einmal ja. Die Länder haben ein Programm von 109 Milliarden Euro beschlossen. Das reicht fürs Erste. Die Länder haben zudem versprochen, Griechenland zu finanzieren, bis das Land zum Markt zurückkommt. Und wenn das eben nie ist, dann müssen sie es auch immer finanzieren.
Sie glauben, dass Griechenland nie an den Markt zurückkommt?
Vorläufig ist nicht absehbar, dass das Land die Kurve kriegt. Griechenland ist weit davon entfernt, wettbewerbsfähig zu sein. Es hat ein Lohn- und Preisniveau, das in keiner Weise seiner Leistungsfähigkeit entspricht.
Das heißt, Preise und Löhne müssen sinken?
Ja, wenn Griechenland wettbewerbsfähig werden soll, müssen sie um 20 bis 30 Prozent sinken. So etwas treibt ein Land an den Rand des Bürgerkriegs, wenn es zu schnell geschieht.
Und wenn wir uns Zeit lassen?
Dann wird es sehr teuer. Deutschland kann hier Beispiel sein. In den vergangenen 15 Jahren sind die deutschen Preise gegenüber den Euro-Partnern um 21 Prozent gefallen. Wer soll Griechenland so lange finanzieren? Anders als Deutschland braucht Griechenland ja ständig neues Kapital, und das will keiner liefern. Ich will mir nicht vorstellen, was alles passiert, wenn die Rettungspakete 15 Jahre lang so weitergehen.
Das Gespräch führten Patrick Bernau und Lisa Nienhaus.