Standard: In Deutschland herrscht seit dem Antritt der Regierung Merkel wieder etwas Optimismus. Halten Sie den für gerechtfertigt?
Sinn: Ja, die Auftragseingänge haben zugelegt, der Export wächst weiterhin stark, der Ifo-Klimaindikator hat den höchsten Stand seit fünf Jahren, und erstmals seit fünf Jahren ziehen die Investitionen an. Das bedeutet, dass auch die Binnennachfrage ins Laufen kommt.
STANDARD: Die Regierung hat gerade ein Konjunkturpaket verabschiedet. Ist das notwendig?
Sinn: Die Konjunktur jetzt anzukurbeln wäre völlig falsch, denn wir haben bereits den Aufschwung. Aber die Regierung tut das gar nicht, ungeachtet aller Äußerungen. Sie will das Budget konsolidieren, die Neuverschuldung reduzieren. Diese Politik ist angemessen.
STANDARD: Manche Stimmen in der Union zeigen sich bereits über den mangelnden Reformeifer Merkels enttäuscht. Sie selbst spricht von einer Politik der kleinen Schritte.
Sinn: Es ist mir lieber, jemand tut mehr als er sagt als umgekehrt. Bislang bin ich noch optimistisch, weil sich Frau Merkel der Schaffung eines Niedriglohnsektors durch einen Kombilohn angenommen hat. Das ist das A und O für die Regierung. Das ist der zentrale Punkt, der gelöst werden muss, um die Menschen in Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen und die Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der Rest ist Nebensache.
STANDARD: Aber Kritiker warnen, dass bei einem Kombilohn die Unternehmen einfach bestehende Löhne senken und den Staat zur Kasse bitten. Wie lässt sich das verhindern?
Sinn: Das kann man nicht verhindern, und man soll es auch nicht. Der Sinn und Zweck des Kombilohns ist es, die Löhne zu senken und dadurch Unternehmen mehr Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen geben. Das größte Problem der deutschen Wirtschaft ist, dass die natürliche Spreizung der Lohnverteilung zwischen besser und schlechter qualifizierten Arbeitnehmern durch die Lohnpolitik der Gewerkschaften und den Lohnersatzleistungen des Sozialstaats zusammengestaucht wurde. Das hat weniger qualifizierte Mitbürger arbeitslos gemacht. Der Kombilohn soll die Lohnskala wieder ausspreizen, und mit staatlichen Zuschüssen verhindern, dass dadurch soziale Probleme entstehen.
STANDARD: Das setzt voraus, dass Unternehmen neue Arbeitsplätze schaffen.
Sinn: Das wird auch passieren. Bei niedrigeren Löhnen ist der Anreiz geringer, Menschen durch Roboter oder Deutsche durch Polen zu ersetzen. Niedrigere Löhne veranlassen Unternehmen zu mehr Investitionen, weil sie glauben, dass sie dann die Gewinne steigern können. Das schafft Arbeitsplätze und Nachfrage.
STANDARD: Doch es belastet auch das Budget ...
Sinn: Das tut es nicht. Der Staat bezahlt heute zwischen zehn und 15 Prozent der Erwerbsbevölkerung dafür, dass sie nicht arbeitet. Das ist irrsinnig teuer. Die Arbeitslosigkeit kostet uns in Deutschland 100 Milliarden Euro im Jahr. Einen gewissen Teil davon sollten wir dafür verwenden, die Menschen dafür zu bezahlen, dass sie im Arbeitsmarkt mitmachen und nicht, dass sie wegbleiben. Das geht durch den Kombilohn. Das Ifo hat ein Modell der aktivierenden Sozialhilfe entwickelt, das gegenüber Hartz IV jedes Jahr fünf Milliarden Euro einsparen würde.
STANDARD: Aber auch mit einer moderaten Senkung der Lohnkosten kann Deutschland nicht mit Polen oder China konkurrieren.
Sinn: Aber mit Österreich doch bitte. Wir sind noch immer ein Drittel teurer als Österreich. Wir müssen uns nicht mit China oder Polen vergleichen, denn die Produktivität ist in Deutschland wesentlich höher. Doch mit dem österreichischen Lohnniveau wäre Deutschland schon wettbewerbsfähig.
STANDARD: Kämpfen Sie weiterhin für eine Verlängerung der Arbeitszeit?
Sinn: Wenn man billiger werden muss, ist eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnerhöhung der beste Weg. Das tut den Menschen weniger weh als direkte Lohnsenkungen. Und die Verlängerung der Arbeitszeit ist für die Wirtschaft ein riesiger Produktivitätsschub, weil Maschinen, Computer und Büroräume besser ausgelastet werden. Dass eine Wirtschaft seinen Kapitalstock große Teile des Tages brach liegen lässt, ist nicht effizient.
STANDARD: In Ihrem jüngsten Buch bezeichnen Sie Deutschland als Basar-Ökonomie? Was meinen Sie damit?
Sinn: Ich wehre mich gegen die These, die besagt: Solange der Export in Deutschland so gut läuft, können die Löhne gar nicht zu hoch sein, denn sonst wäre der Export nicht so stark. Es ist umgekehrt: Die hohen Löhne haben den Exportboom verursacht. Sie zerstören die arbeitsintensiven Sektoren der Wirtschaft, die mit Importen konkurrieren. Die Menschen und das Kapital sind in den Exportsektor gewandert; der ist kapitalintensiv und kommt mit höheren Löhnen besser zurecht. Das führt zu einer pathologischen Ausweitung der Exporte. Dazu kommt, dass die arbeitsintensiven Vorproduktionsketten in den Osten ausgelagert werden und nur die kapitalintensiven Stufen hier bleiben. Die Exportmengen steigen dadurch viel rascher als die Wertschöpfung.
STANDARD: Und was macht den Basar aus?
Sinn: Deutschland ist der Industriebasar der Welt: Kein anderes Land hat eine so reichhaltige Palette an Industriegütern. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs hat dieser Basar in seinem Hinterhof selbst produziert. Jetzt lässt er zunehmend in Osteuropa und China produzieren. Das ist zwar prinzipiell gut, doch wegen der hohen Löhne in seinem Ausmaß übertrieben.
Zur Person:
Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn (57) leitet seit 1999 das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München und gehört zu den schärfsten Kritikern der Gewerkschaften und der von ihnen durchgesetzten Hochlohnpolitik. 2003 wurde sein Buch "Ist Deutschland noch zu retten?", wo er für Lohnsenkungen und längere Arbeitszeiten eintrat, zum Bestseller. Zuletzt erschien "Die Basar-Ökonomie" (Econ Verlag).
Am Mittwochabend hielt Sinn in Wien zum Thema "Basar-Ökonomie Deutschland: Weltmeister oder Schlusslicht?" die dritte Böhm-Bawerk Lecture, die von der Akademie der Wissenschaften und der Industriellenvereinigung zu Ehren des berühmten österreichischen Ökonomen organisiert wird. (ef)