Die deutsche Wirtschaft befindet sich in der Rezession. Die Regierung macht die schwache Weltkonjunktur dafür verantwortlich.
Aber es gibt auch neutrale Stimmen, die ganz anderer Meinung sind. FAZ.NET hat sich mit Professor Hans-Werner Sinn vom bekannten ifo-Institut für Wirtschaftsforschung unterhalten.
Herr Sinn, der Euro ist seit seiner Einführung vor allem gegen den Dollar, aber auch gegen andere Währungen wie etwa den Schweizer Franken oder auch das britische Pfund ziemlich stark gefallen. Was könnte die Ursache sein?
Wir erklären uns das vor allem aus dem Bargeldumlauf. Der ist entgegen dem Trend seit 1997 nicht mehr gestiegen, sondern gerade in der jüngster Zeit erstaunlich stark gefallen. Nämlich in einer Größenordnung von etwa 100 Milliarden Euro.
Wieso denn das?
Das dürfte vor allem ein "Schwarzgeldeffekt" im Zusammenhang mit der physischen Einführung des Euro sein. Da gab und gibt es bis Ende Februar noch Ängste vor dem Umtausch von Schwarzgeld in den Euro. Einmal mit Blick auf das Geldwäschegesetz und der Schleierfahndung an den Grenzen, aber auch weil die neue Währung noch unbekannt ist und die Leute erst Vertrauen zu ihr gewinnen wollen.
Kann das soviel Geld sein?
Die "schwarze Wirtschaft" hat in der EU einen Anteil von etwa 14 Prozent am Sozialprodukt, das entspricht mindestens einem Bargeldbestand von 50 Milliarden Euro. Auch in Osteuropa führte die Abschaffung der Mark zu Absetzbewegungen. Dort gab es auch etwa umgerechnet 50 Milliarden Euro, die zunächst "sicherheitshalber" in Dollar, Franken oder Pfund angelegt wurden. Noch Mitte des vergangenen Jahres wollten nur 40 Prozent Osteuropäer ihre Bargeldbestände in Euro tauschen.
Kann das die Währung so stark beeinflussen?
Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass 100 Milliarden zu einer Abwertung von 30 bis 40 Cents führen können. Das käme also ungefähr hin.
Das heißt, mit dem Ende des Umtauschs in Euro wird sich dieser Effekt umdrehen und den Euro stärken?
Davon gehe ich aus. Das wird nicht von heute auf morgen passieren, aber mit zunehmendem Vertrauen in die neue Währung wird man genau so, wie man aus der Mark ausgestiegen ist, in den Euro einsteigen.
Was halten Sie denn von der am Finanzmarkt beliebten und auch den Medien verbreiteten These, der Euro sei schwach, weil Anleger lieber im Ausland Wertpapiere kaufen - etwa in den USA und dafür Dollar benötigen?
Nicht sehr viel. Das Entscheidende sind Veränderungen von "Geldbestandsgrößen". Wenn die Nachfrage nach US-Wertpapieren steigt, steigt der Kurs dieser Wertpapiere, aber nicht der Dollar.
Kommen wir zur Wirtschaft in Europa. Wie wird sie sich entwickeln?
Nach unserer Einschätzung könnte der Tiefpunkt der Kapazitätsauslastung im zweiten Quartal 2002 erreicht sein. Aber Entwarnung können wir erst im zweiten Halbjahr geben. Dabei werden wir etwa vier Millionen Arbeitslose haben.
Was kann gegen die Rezession getan werden?
Einmal könnte die europäische Zentralbank die Zinsen stärker senken. Die sowieso geplante Steuerreform könnte vorgezogen werden. Die Regierung hat zwar Angst vor dem Defizitkriterium von drei Prozent, aber die Steuerreform würde die Verschuldung zunächst nur um 0,3 Prozent erhöhen. Dann könnte man noch nach dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz Investitionsprämien ausloben. Für all diese Maßnahmen wird es aber nun bald zu spät sein. Das ifo hatte sie im vergangenen Herbst empfohlen. Die Konjunktur in den Aufschwung hinein zu stimulieren, hätte wenig Sinn. Wichtiger sind heute die strukturellen Maßnahmen.
Mit Blick auf Deutschland - was sind die längerfristigen Perspektiven?
Deutschland ist beim Wachstum des Produktionspotenzials Schlusslicht aller europäischen Länder. Das hat nichts mit der schwachen Konjunktur zu tun, bei der es nur um die Auslastung geht. Das zeigt, dass das Land strukturelle Probleme hat.
Erstens findet zwischen den Neuen Bundesländern und dem Westen keine Konvergenz statt. Jeder dritte im Osten ausgegebene Euro kommt aus dem Westen und wird im Moment noch großenteils über Schulden finanziert. Zweitens hat Deutschland weltweit die höchsten Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe. Dabei gibt es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Lohnkosten und Beschäftigung. Hier brauchen wir eine neue Arbeitsmarktpolitik. Das Tarifrecht ist zu starr, der Kündigungsschutz und die Mitbestimmung müssen auf den Prüfstand. Mitabeiterbeteiligungsprogramme im Austausch gegen Lohnzurückhaltung sind zu empfehlen. Drittens hat Deutschland mit 66 Prozent die höchste Grenzabgabenlast des durchschnittlichen Arbeitnehmers weltweit. Vor allem die unteren Lohngruppen werden für Arbeit geradezu bestraft. Wer als Sozialhilfeempfänger mit Frau und zwei Kindern weniger als 1.700 Euro verdient, erhält das an der Sozialhilfe abgezogen, was er verdient. Hier brauchen wir andere Anreize, denn wieso sollte so jemand arbeiten? Viertens führt die Zinskonvergenz in Europa zu einem verstärkten Wettbewerb um Kapital. Es wandert dort hin, wo es produktiver eingesetzt werden kann. In Länder mit niedrigeren Löhnen wie Spanien, Irland oder Portugal. Die Gewinner dieses Prozesses werden die Kapitalanleger sein, die Verlierer die deutschen Arbeitnehmer.
Das Gespräch führte Christof Leisinger.