Strenger Prophet der Globalisierung

Interview mit Hans-Werner Sinn, Börse Online, 04.02.2005, S. 54

BÖRSE ONLINE: Vor zwei Jahren fragten Sie mit Ihrem Buch, ob Deutschland noch zu retten ist. Was ist Ihre Antwort heute?

HANS-WERNER SINN: Es ist immer noch zu retten, und es gibt ja Reformen. Ob sie reichen, ist eine andere Frage. Die prekäre Wirtschaftslage zeigt, dass wir uns beeilen müssen. Denn die Weltwirtschaft boomt inzwischen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, aber Deutschland nimmt an dieser Entwicklung nicht teil. Da zeigt sich ganz klar unser strukturelles Problem.

BÖRSE ONLINE: Was sind die Gründe dafür?

SINN: Die Unternehmen haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs andere Möglichkeiten. Die Investitionen in Deutschland sind sogar jetzt, im Aufschwung sehr schwach. Normal sind in dieser Phase Zuwächse der Investitionsgüternachfrage im Bereich von sechs bis zwölf Prozent. 2004 hatten wir ein Minus von 0,5 Prozent. Investiert wird anderswo.

BÖRSE ONLINE: Was bedeutet das auf lange Sicht für Deutschland?

SINN: Das wahre Ausmaß der Gefahren für die Arbeitsplätze ist den Menschen noch nicht klar. Auch die Politiker wollen den globalen Konkurrenzkampf von sich weisen wie ein Buch, das man beiseite legt, wenn es nicht gefällt. Aber die Kräfte des Marktes zwingen zum Wettbewerb mit anderen Ländern, die heißhungrig ums knappe Investitionskapital buhlen.

BÖRSE ONLINE: Wie kann man auf den Kostenvorsprung der Chinesen reagieren?

SINN: Es ist Naivität im Quadrat zu sagen, wir hätten keine Chancen und sollten deshalb gar nicht erst versuchen, uns dem Wettbewerb zu stellen. Wir haben gar keine Wahl. Deutsche Arbeiter sind im Moment 25 Mal so teuer wie die Chinesen, aber sicherlich sind sie mitsamt ihres Standorts nicht 25 Mal so gut. Zum Glück leben die Chinesen auf der anderen Seite der Welt. Uns trennen hohe Transportkosten. Und zum Glück können sich die deutschen Unternehmen durch Rückgriff auf die Niedriglöhner in Osteuropa über Wasser halten.

BÖRSE ONLINE: Was heißt das für die deutschen Arbeitnehmer?

SINN: Dass sie noch besser werden, länger arbeiten und sich auf das spezialisieren müssen, was sie besonders gut können. Ich denke hier an Maschinenbau, großtechnische Anlagen, komplexe Industrie-Dienstleistungen und Basar-Tätigkeiten. Deutschland ist der Basar der Welt und hat die Chance, seine Position als Drehscheibe des Handels weiter auszubauen.

BÖRSE ONLINE: Sind jetzt also einschneidende Reformen à la Thatcher fällig?

SINN: Wir brauchen radikale Reformen und die verlangen mutige und energische Politiker wie Margaret Thatcher in England. Die war mir zwar in sozialer Hinsicht zu brutal, aber sie hat gekämpft und das Land erfolgreich umgedreht. Die Politik muss jetzt einen klügeren Sozialstaat schaffen. Einen, der nicht versucht, sich den Chinesen oder Polen zu widersetzen, sondern der akzeptiert, dass sich die Verhältnisse verändert haben. Einen Sozialstaat, der aktiviert und Lohnzuschüsse statt Lohnersatz zahlt, um so die Lohnanpassung im Bereich der Geringqualifizierten zu ermöglichen und dabei die Einkommen der Betroffenen zu sichern.

BÖRSE ONLINE: Reicht Hartz IV aus?

SINN: Hartz IV greift das auf, aber nicht weit genug. Der Staat muss sich aus seiner Konkurrenzrolle bei den Löhnen entfernen. Auch mit Hartz IV ist es für Arbeitslose immer noch attraktiv, sich dem Arbeitsmarkt nicht zu stellen oder, gemessen an ihren Qualifikationen, astronomisch hohe Löhne zu verlangen, die kein Arbeitgeber zahlen kann. Die Hartz-IV-Betroffenen stehen wie vor der Eigernordwand: Wer hinzuverdient, verliert seinen Anspruch zu 80 bis 90 Prozent.

BÖRSE ONLINE: Für die Gewerkschaften sind Lohnsenkungen aber tabu.

SINN: Das wird sich ändern. Ich spüre gegenüber dem Thema der aktivierenden Sozialhilfe mehr und mehr Verständnis bei den Gewerkschaften. Da gibt es in der Spitze nicht nur Betonköpfe, sondern auch ganz vernünftige Leute.

BÖRSE ONLINE: Die aber alle höhere Löhne für mehr Binnennachfrage fordern.

SINN: Ohne Zweifel ist die Binnennachfrage schwach. Binnennachfrage besteht aber aus Konsum- und Investitionsgüternachfrage. Die Unternehmen investieren nicht mehr in Maschinen oder Gebäude, weil sie wegen der hohen Löhne andere Standorte bevorzugen. Der Arbeitsplatzabbau macht den Leuten Angst, so dass sie ihren Konsum einschränken. Der Konsum ist im letzten Jahr geschrumpft, obwohl die Nettolöhne stiegen. Je höher die Löhne, desto mehr Meldungen à la Karstadt und Opel, desto schwächer die Binnennachfrage seitens der Investoren und der privaten Haushalte.

BÖRSE ONLINE: Wie kann Deutschland also wettbewerbsfähiger werden?

SINN: Neben der aktivierenden Sozialhilfe ist ein zweiter Arbeitsmarkt für Frührentner wichtig. Die Staatsquote muss gesenkt werden. Mit 57 Prozent bezüglich des Volkseinkommens sind wir ja momentan dem Kommunismus näher als der Marktwirtschaft. Die Subventionen, je nach Rechnung 75 bis 150 Milliarden Euro, müssen weitgehend wegfallen. Der gesetzliche Kündigungsschutz, der als Mobilitätsbremse wirkt, muss wegfallen. Der Flächentarifvertrag muss durch betriebliche Öffnungsklauseln, die den Belegschaften mehr Rechte geben, gelockert werden. Für alles das brauchen wir einen Politiker mit fast übernatürlichen Kräften oder eine große Koalition.

BÖRSE ONLINE: Ärgert es Sie, für solche Reformvorschläge als Sklaventreiber verunglimpft zu werden?

SINN: Das ist das Kassandra-Phänomen. Wenn ich sage, dass wir wegen der Niedriglohnkonkurrenz in einer Zwickmühle stecken und die Wahl zwischen Lohnsenkungen oder noch mehr Massenarbeitslosigkeit haben, macht man mich für diese Zwickmühle verantwortlich. Wirklich ärgert mich, dass dabei meine Vorschläge zur aktivierenden Sozialhilfe und zur Verbesserung des Lebensstandards der weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft unter den Tisch fallen.

INTERVIEW: L. HEINZ / K. TOPARKUS