AZ-Interview mit Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über Arbeitslosigkeit
AZ: Arbeitsminister Walter Riester ist mit der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt unzufrieden. Sind Sie es auch?
Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung: 3,8 Millionen Menschen ohne Arbeit sind viel zuviel. Es werden in diesem Jahr zwar weniger, für einen langfristigen Abbau muss aber noch einiges geschehen.
Woran denken Sie?
In der gegenwärtigen Diskussion ist zuviel von Steuerreform und Deregulierung die Rede. Man macht einen viel zu großen Bogen um den Arbeitsmarkt selbst. Ihn zu flexibilisieren, ist der Königsweg.
Wie soll diese Flexibilisierung aussehen?
Eines der Hauptprobleme in Deutschland ist die hohe Arbeitslosigkeit bei gering Qualifizierten. Die Ursache dafür sind die hohen Mindestlöhne. Sie betragen 70 Prozent der duchschnittlichen Löhne. In Amerika sind es nur 30 Prozent. Und weil einfache Arbeiten so teuer sind, schaffen die Unternehmen hier erst keine Arbeitsplätze.
Ist das amerikanische Billigjob-System wirklich erstrebenswert?
Wir dürfen nicht alle US-Verhältnisse auf Deutschland übertragen, vor allem nicht dortige Vorstellungen von Armut. Aber eines läuft hier falsch: Bei uns erhält nur Sozialhilfe, wer nicht arbeitet. Sinnvoll wäre es umgekehrt: Man kriegt volle Sozialhilfe nur unter der Bedingung, dass man Arbeit nachweist. Es ist Unsinn, Menschen nur unter der Bedingung zu helfen, dass sie selbst nichts tun.
Was wäre die Folge des Modells?
Es wäre eine Subventionierung der Arbeit statt der Untätigkeit. Wenn die Sozialhilfe den Lohn ergänzt, statt ihn zu ersetzen, könnten die Mindestlöhne für einfache Arbeiten sinken. Und dann würde es für - Unternehmen und Haushalte attraktiv, Stellen zu schaffen. Das ist die mit Abstand wichtigste Ursache für das Jobwunder in Amerika.
Mit DAG-Chef Roland Issen forderte erstmals ein Gewerkschafter, arbeitsunwillige Arbeitslose stärker unter Druck zu setzen. Was halten Sie davon?
Ich halte es für vernünftig dass Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen, einen Teil der staatlichen Hilfe verlieren. In Leipzig gibt es dazu einen aufschlussreichen Modellversuch.Viele Sozialhilfeempfänger lehnen dort angebotene Arbeit ab, um weiter schwarz arbeiten zu können.
Sehen Sie auch bei höher Qualifizierten die Möglichkeit, Stellen zu schaffen?
Die hohen Arbeitskosten sind das deutsche Grundübel. Aus diesem Grund stellen viele Unternehmen keine neuen Arbeitskräfte ein. Wenn die Löhne auch höher Qualifizierter sinken würden, gäbe es neue Stellen. Man muss aber einige Jahre warten, bis sich der volle Effekt zeigt.
Aber niemand ist bereit, auf Lohn zu verzichten.
Den Beschäftigten könnte die Lohnzurückhaltung dadurch abgekauft werden, dass sie am Unternehmen beteiligt werden. Es gibt viele Modelle dafür, zum Beispiel Aktien, Genussrechte oder Pensionsansprüche.
Die Arbeitgeberverbände fordern auch leichtere Kündigungsmöglichkeiten. Wäre das nicht ein Rückschritt für den sozialen Frieden in Deutschland?
Ich halte den deutschen Kündigungsschutz für überzogen. Er ist ein Beispiel dafür, dass Arbeitsschutzmaßnahmen das Gegenteil dessen bewirken können, was sie bezwecken sollen. Denn der Kündigungsschutz veranlasst Unternehmen dazu, weniger Leute einzustellen. Unter dem Strich kommen so weniger Stellen heraus, als es ohne den Schutz gäbe.
Wie viele Stellen ließen sich schaffen, wenn die von Ihnen beschriebenen Maßnahmen umgesetzt würden?
Ich bin sicher, dass dann praktisch Vollbeschäftigung möglich wäre, also eine Arbeitslosigkeit von nur noch einem Prozent. Einen Rest an sogenannter friktioneller Arbeitslosigkeit gibt es aber immer, weil es zum Beispiel eine gewisse Zeit dauert, bis Arbeitnehmer einer in Konkurs gegangenen Firma wieder eine neue Stelle finden.
Interview: Harald Freiberger
Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Abendzeitung.