Strafe muss sein

Interview mit Hans-Werner Sinn, Rheinischer Merkur, 26.09.2002, 13

Der Präsident des Ifo-Instituts erwartet wegen des Defizits einen blauen Brief für Berlin

RHEINISCHER MERKUR: Was ist aus Sicht der Wirtschaft die wichtigste Erkenntnis aus dem Wahlergebnis?

PROFESSOR HANS-WERNER SINN: Dass es sehr schwer wird, mit dieser knappen Regierungsmehrheit jene Reformen durchzusetzen, die Deutschland wieder zukunftsfähig machen.

Hat ein solch knappes Resultat Auswirkungen auf konjunkturelle Entwicklungen wie das Investitionsklima?

Ja, das glaube ich schon. Ich sehe im Moment nicht, wo eine Aufbruchstimmung herkommen sollte.

Die FDP, die am konsequentesten auf Reformen gedrängt hat, ist damit nicht durchgedrungen. Haben sich die Bürger an die Krise gewöhnt?

Die FDP hat sich nicht als seriöse Partei präsentiert. Es ist das Bedauerlichste an diesem Wahlkampf, dass die Liberalen ihren richtigen Reformansatz durch törichte Aktionen selbst kaputtgemacht haben.

Das Wahlergebnis zeigt, dass eine klare Mehrheit Reformen ablehnt, weil sie diese mit Ängsten verbindet.

Weil das so ist, gehe ich davon aus, dass solche Reformen nur von einer Großen Koalition durchgesetzt werden können. Sonst blockieren sich die politischen Lager gegenseitig.

Alle Institute sind dabei, ihre Wachstumsprognosen nach unten zu korrigieren. Sie auch?

Wir haben eine Wachstumsprognose für dieses Jahr von 0,7 Prozent veröffentlicht. Die neue Prognose wird derzeit gemeinsam von den Wirtschaftsforschungsinstituten erarbeitet Generell glaube ich aber, dass Deutschland ein schwieriges Jahrzehnt vor sich hat, sofern nicht durch fundamentale Reformen des Arbeitsmarktes, im Tarifrecht, beim Umbau des Sozialstaates die Bremsklötze weggeräumt werden.

Berlin zögert die Anmeldung seiner aktuellen Haushaltszahlen in Brüssel hinaus. Kann Deutschland einen blauen Brief wegen Überschreiten der berühmten Defizitquote vermeiden?

Vermutlich nicht. Die Wahrscheinlichkeit wächst, dass Deutschland die Drei-Prozent-Grenze nicht wird einhalten können.

Einige Länder machen Druck, den Stabilitätspakt zu überdenken.

Das ist sinnvoll. Ich fordere auch, dass der Stabilitätspakt neu geschrieben wird. Aber - das ist die wichtige Einschränkung - erst, nachdem die jetzige Krise überwunden ist. Man kann nicht bei der ersten großen Belastungsprobe die ganze Vereinbarung außer Kraft setzen. Also: Wer jetzt dagegen verstößt, muss bitte Strafe zahlen.
Aber im zweiten Schritt muss man überlegen, in Zukunft zwischen einem strukturellen und einem konjunkturellen Defizit zu unterscheiden.

Großbritannien, immerhin Euro-Kandidat, hat eine Verpflichtung zu einem ausgeglichenen Haushalt über einen längeren Zeitraum, nicht im Jahreszyklus. Ist das eine gute Idee?

Ja. Das kommt meiner Meinung nahe. Man sollte ein strukturelles Defizit von einem Prozent festsetzen, aber eine Abweichung aus konjunkturellen Gründen ermöglichen. Dies hat den Vorteil, dass auch in guten wirtschaftlichen Jahren Haushaltsdisziplin eingefordert wird. Es ist die Schwäche des geltenden Maastrichter Vertrages, dass die Disziplinierung in wirtschaftlich besseren Zeiten zu schwach ausfällt.

Heißt das auch, in konjunkturell angespannten Zeiten muss die Etatkonsolidierung zurückstehen zugunsten steuerlicher Entlastungen, um so zunächst die Konjunktur anzukurbeln?

Deutschland hat nicht in erster Linie ein Konjunkturproblem; das haben andere Länder auch. Wir haben vor allem ein strukturelles Problem. Unsere Arbeitslosigkeit etwa ist nur zum kleinen Teil konjunkturell bedingt.

Ist denn das Ziel überhaupt noch realistisch, bis 2004 einen ausgeglichenen Gesamthaushalt zu erreichen?

Erreichbar ist das. Es bedarf allerdings erheblicher Ausgabenkürzungen. Vor der Wahl spricht man über Steuern, nach der Wahl muss man über die Ausgaben reden. Wir haben ein Subventionsvolumen von bis zu 150 Milliarden Euro. Diesen Dschungel muss man lichten. Gleiches gilt für eine Beschneidung der Ausgaben im Bereich der sozialen Sicherung.

Was muss in der neuen Regierungsvereinbarung ganz oben anstehen?

Eine Reform des Tarifrechtes, die den starren Flächentarifvertrag lockert, der zum Beispiel in den neuen Ländern gar nicht mehr eingehalten wird. Es muss den Betrieben künftig möglich sein, abweichende Vereinbarungen zu treffen, auch wenn das niedrigere Löhne bedeutet, falls die Belegschaft in ihrer Mehrheit dieses will.

Das würde bedeuten, die SPD muss in der ersten Runde auf Konfliktkurs gehen zu den Gewerkschaften. Reichlich unrealistisch.

Eben. Das ist mein Problem mit dem Wahlergebnis. Die Mehrheit ist zu gering, um die nötigen Konflikte gegen die korporatistischen Interessen durchzustehen.

Der Kanzler setzt vor allem auf die Hartz-Vorschläge. Kann so die Arbeitslosigkeit halbiert werden?

Insofern, als die geplanten Personal-Service-Agenturen eine massive Subventionierung von Arbeitskräften bedeuten, glaube ich das schon. Die Beispielsrechnungen in dem Reformpapier laufen darauf hinaus, dass man die Lohnkosten bis zu zwei Dritteln herabsubventioniert. Stellensuchende werden beim Arbeitsamt beschäftigt und subventioniert an die Wirtschaft weitergegeben. Sie können sogar an dieselben Unternehmen zurückgegeben werden, bei denen sie früher beschäftigt waren, denn die entsprechenden Paragrafen des Leiharbeitsgesetzes sollen ausgesetzt werden.
Das wird einen massenhaften Zustrom von bereits beschäftigten Personen in die Personal-Service-Agenturen erzeugen, den man nicht wird beherrschen können. Der Plan ist nicht realisierbar, weil die finanziellen Lasten für den Bund schier unermesslich sind.

Die Hartz-Kommission setzt auch auf eine effektivere Vermittlung.

Das ist angemessen und sinnvoll, schafft aber keinen einzigen zusätzlichen Job. Da bin ich ohne Illusionen.

Das Hauptproblem bleiben die zu hohen Lohnnebenkosten.

Deutschland hat mit einer Abgabenlast von 66 Prozent auf die Wertschöpfung, die ein durchschnittlicher Arbeitnehmer durch Mehrarbeit erbringt, eine Weltspitzenposition. Ob die jetzige Regierung die Kraft hat für eine Kehrtwende, wage ich zu bezweifeln.

Und wie sicher sind die Renten?

Die von Walter Riester eingeleitete Reform ist vernünftig. Aber die private Vorsorge muss zur Pflicht gemacht werden; denn gerade diejenigen, die es am meisten betrifft, sparen jetzt nicht ausreichend an.

Weil die Regelung zu kompliziert ist?

Nein. Wer am unteren Ende der Einkommensskala steht, weiß, dass er im Alter einen Sozialhilfeanspruch hat, den er sich verringert, wenn er jetzt dagegen anspart. Die staatliche Intervention verlangt deshalb zwingend, dass man eine Pflicht zur privaten Vorsorge einführt, wie es der Wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsminister vorgeschlagen hatte.

Weitere Korrekturen in der Rentenpolitik sind nicht nötig?

Aber ja. Wegen des Rückgangs der Erwerbsbevölkerung kommen wir nicht umhin, das Rentenniveau abzusenken. Wir brauchen eine neue Rentenformel, die den Anstiegswinkel des Rentenpfades verringert. Dazu gehört, die Rente nach der Kinderzahl zu differenzieren. Wer keine Kinder hat, leistet auch keinen ausreichenden Beitrag zur Finanzierung seiner eigenen Rente.

Ihr Rezept zur Gesundheitsreform?

Ich sehe nicht ein, wieso die Krankenversicherung eine staatliche Versicherung sein soll. Ich setze daher auf eine Privatisierung des gesamten Krankenkassenwesens, um so in das System mehr Effizienz und kostensenkende Anreize einzubauen.

Verstärkt wird eine neue Struktur für das Wirtschaftsministerium diskutiert. Braucht es mehr Kompetenzen?

Es sollte mit dem Arbeits- und Sozialressort verbunden werden. Denn für die Reformen brauchen wir eine einheitliche Zuständigkeit. Ich glaube nicht, dass aus der derzeitigen Struktur die nötigen Impulse kommen.

Die Fragen stellte Markus Schöneberger

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