Interview mit Hans-Werner Sinn anlässlich einer Tagung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften

Rheinische Post, 11.2002

Interview Hans-Werner Sinn

Das Interview wurde in gekürzter Fassung in der Rheinischen Post im November 2002 veröffentlicht. Zuvor war irrtümlich eine nicht autorisierte Version desselben Interviews erschienen.

Heute hat der Bundestag das Hartz-Konzept zum Arbeitsmarkt verabschiedet. Wird es jetzt bald spürbar weniger Arbeitslose geben?

Sinn: Das wäre nur dann der Fall, wenn die Leiharbeitnehmer der Personal-Service-Agenturen hoch subventioniert würden. Das würde aber wiederum zum finanziellen Ruin der Bundesanstalt für Arbeit führen.

Warum?

Entscheidend ist doch das, was die Unternehmen tatsächlich für die Arbeitskräfte bezahlen müssen. Wenn der Lohn ­ wie es präzis bei Hartz beschrieben ist ­ auf bis zu 35 Prozent der Tariflöhne heruntersubventioniert wird, ist eine Einstellung von Arbeitskräften lohnend. Nur für alle Arbeitslose ist das nicht finanzierbar. Das ist der grundsätzliche Denkfehler bei Hartz.

Was müsste denn am Hartz-Konzept verändert werden?

Die PSA-Aktivitäten müssen auf den Niedriglohnbereich beschränkt werden. Nur so sind die fiskalischen Kosten beherrschbar. Klein-Hartz geht, Groß-Hartz geht nicht. Die Vorschläge für einen Niedriglohnsektor, die vom ifo Institut, vom wissenschaftlichen Beirat beim Wirtschaftsministerium und vom Sachverständigenrat unterbreitet wurden, sind in diesem Punkt völlig deckungsgleich. Sie liegen auf dem Tisch und sind voll durchgerechnet.

Was schlagen Sie konkret vor?

Wir brauchen Lohnsubventionen für gering Qualifizierte, die durch Einsparungen bei der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe finanziert werden. Es ist besser, das Tun als das Nichtstun zu subventionieren. Die Firmen und privaten Haushalte würden nach unseren Berechnungen sehr viele zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Insgesamt geht es um 2,3 Millionen Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, die man langfristig anstreben muss, Arbeitsplätze, die derzeit wegen der hohen Lohnersatzeinkommen und der daraus abgeleiteten Lohnansprüche nicht geschaffen werden können.

Damit reden sie einer massiven Lohnkürzung das Wort?

Es geht mir vor allem um die Lohnspreizung. Die Löhne sind am unteren Ende der Lohnskala zu hoch. Man muss sie senken und durch Lohnsubventionen sicherstellen, dass unsere sozialen Standards nicht beeinträchtigt werden. Das ist machbar, ja man kann die Einkommen der Betroffenen sogar erhöhen, ohne dass fiskalische Nettolasten entstehen.

Glauben Sie wirklich, dass die Sache nichts kostet?

Ja, durch die Absenkung der Arbeitslosenhilfe und des Eckregelsatzes der Sozialhilfe werden einerseits Mittel frei, andererseits werden bereits hierdurch erhebliche Mobilisierungseffekte erreicht. Dadurch wird ein hoher Wirkungsgrad der Maßnahmen erreicht.

Wie wollen Sie Mitnahmeeffekte verhindern?

Die kann ich auf Dauer gar nicht verhindern. Denn in Marktwirtschaften bildet sich schon recht bald ein gleicher Lohn für gleiche Tätigkeiten heraus. Man muss den Mitnahmeeffekt wollen, denn man muss die bei unserem Vorschlag zu erwartende Senkung der Löhne im gesamten Niedriglohnbereich durch Lohnsubventionen kompensieren, sonst werden unsere sozialen Standards verletzt. Die Sperre, die ich bei den Kosten einziehe, ist die Beschränkung auf den Niedriglohnsektor. Hartz will die Subventionen bei allen Qualifikationsstufen, und auch er hat den Mitnahmeeffekt. Bei ihm ist der Effekt finanziell nicht beherrschbar. Bei uns schon. Das ist der Punkt.