Totale Kehrtwende nötig

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Trierischer Volksfreund, 14.01.2003

ifo-Präsident Hans-Werner Sinn kritisiert im TV-Interview die Regierung

TRIER/MÜNCHEN Die Bundesregierung ist mit ihren jetzt gedämpften Wachstums- und Beschäftigungs-Erwartungen nach Ansicht von Konjunktur-Forschern der Realität einen Schritt näher gekommen. Im Interview mit dem Volksfreund fordert der Präsident des renommierten ifo Instituts, Hans-Werner Sinn, aber auch in der Arbeitsmarktpolitik ein konsequentes Umdenken.

Bundeswirtschaftsminister Clement hat seine Wachstumsprognosen herunter geschraubt und an die Erwartungen der Wirtschaftsforschungsinstitute angepasst. Nun geht auch er von einem Wachstum von einem Prozent für 2003 aus. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Sinn: Er entspricht unserer Prognose und es ist ein wichtiger Schritt in Richtung Realismus. Er hat natürlich zur Konsequenz, dass auch die Ausgabenplanung für dieses Jahr entsprechend reduziert werden muss, denn wenn die Wachstumsrate niedriger ist, sind ja auch niedrigere Steuerschätzungen anzusetzen. Wenn die Regierung mit einer hohen Wachstumsrate rechnet, dann geht sie implizit auch davon aus, dass relativ viel Geld in die Kasse zu kommt, und der Sparzwang ist gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Geld zum Jahresende wieder nicht reicht und erneut ein Konflikt mit dem Maastricht-Kriterium entsteht, ist entsprechend größer. Insofern ist die Regierung gut beraten, eher vorsichtig zu kalkulieren, wie es Herr Clement vorschlägt.

Die Institute und nun auch die Regierung haben ihre Wachstumsprognosen schon revidiert. Müssen wir in diesem Jahr mit weiteren "Rückziehern" rechnen?

Sinn: Nein. Ein Prozent Wachstum bleibt der Schätzwert. Das ist aber mies genug. Ein Prozent ist so gut wie gar nichts. Deutschland wird im dritten Jahr hintereinander eine stagnierende Wirtschaft haben.

Eine der unberechenbaren Gefahren im Jahr 2003 ist der Irak-Konflikt. Welche Probleme sehen Sie für die Wirtschaft?

Sinn: Wenn es eine kurze Auseinadersetzung gibt, werden die wirtschaftlichen Folgen gering sein. Das war so beim Golfkrieg. Die Börse brach auch damals vor dem Krieg ein, und auch die Wirtschaftstätigkeit war in Erwartung des Krieges gelähmt. Aber wenige Wochen nach Kriegsbeginn, als klar wurde, dass die Amerikaner die Sache im Griff haben, kam es zu einem stürmischen Kursanstieg, und die Wirtschaft hat sich daraufhin auch sehr schnell erholt. Ich vermute, dass das wieder so sein wird. Die Phase der Unsicherheit seit dem 11. September 2001 mit der latenten Kriegsgefahr ist noch viel problematischer für die Wirtschaft als der wirkliche Krieg. Das soll nun aber nicht heißen, dass ich den Krieg fordere oder gutheiße. Viel besser wäre ein anderes Szenario, wo möglichst rasch klar wird, dass der Krieg vermieden werden kann. Die Vorahnung eines Krieges ist allerdings für die Wirtschaft das Schlechteste, was passieren kann, weil die Investoren einfach nur abwarten.

Sie haben damit auch das allgemeine Stimmungstief beschrieben, das derzeit in der Wirtschaft herrscht. Welche anderen Gründe tragen zu dieser miesen Laune in Deutschland bei?

Sinn: Ja. Das Stimmungstief ist kaum zu überbieten. Wir sind jetzt im dritten Jahr der Stagnation. Vor zwei Jahren hatten wir nur 0,6 Prozent Wachstum, vergangenes Jahr 0,2 Prozent, und in diesem Jahr erwarten wir nur die schon erwähnten ein Prozent. Das ist schlimmer als nur eine kurze Rezession, wo die Wirtschaft in einem Jahr schrumpft und dann wieder wächst. Die Flaute liegt im Zusammenfallen zweier Effekte begründet: Da sind zum einen die aktuellen Schwierigkeiten in der Weltwirtschaft, die auf den Terrorismus und die Kriegsangst zurückzuführen sind, und zum anderen gibt es hausgemachte deutschen Probleme, die langfristiger Natur sind und dazu geführt haben, dass die Wachstumsrate in Deutschland seit Mitte der 90-er Jahre niedriger war als in allen anderen EU-Ländern. Und unsere Wachstumsrate ist nicht etwa niedriger, weil wir auf hohem Niveau stehen und die anderen sich annähern, sondern das Problem ist, dass die anderen uns überholen. Großbritannien hat uns vor zwei Jahren überholt; Österreich, Finnland, und Irland ebenso. Frankreich hat inzwischen gleichgezogen und wird uns in Kürze überholen. Das ist deshalb bemerkenswert, weil vor 25 Jahren das französische und das britische Pro-Kopf-Einkommen bei der Hälfte des deutschen Einkommens lag.

Was sind nun die hausgemachten Probleme?

Sinn: Sie haben zum einen mit der deutschen Wiedervereinigung zu tun, die hohe Steuern erzwingt, weil wir dabei wirtschaftlich vieles falsch gemacht haben. Zum anderen liegen sie in Starrheiten des Arbeitsmarktes und des Sozialstaates begründet, die eine flexible Reaktion auf den zunehmenden Standortwettbewerb verhindern. Wir, die wir ja die höchsten Arbeitskosten auf der Welt haben, werden zunehmend von Niedriglohnwettbewerbern in Fernost, in der EU, und in Osteuropa bedrängt. Der Wettbewerb verlangt eigentlich eine Lohnmäßigung, doch die wird von den Gewerkschaften und auch vom Sozialstaat, der hohe Lohnersatzeinkommen anbietet, verhindert. Die Konsequenz ist eine Verweigerung der Investoren, wie wir sie noch nicht hatten. Wer hier investiert, muss auf dem Absatzmarkt mit den immer aggressiver werdenden ausländischen Niedriglohnanbietern und auf dem Arbeitsmarkt mit einem überaus großzügigen inländischen Sozialstaat konkurrieren. Das klappt heute nicht mehr, weil die Welt nicht mehr dieselbe ist wie noch vor zehn Jahren. Überall um uns herum, im Osten wie im Westen, haben sich die Wettbewerber dank des europäischen Binnenmarktes, des Euro und der Ostererweiterung der EU in Position bringen können. Deutschland ist keine wettbewerbsfähiger Investitionsstandort mehr, der Unternehmern gute Aussichten bieten könnte. Entweder geht man selbst ins Ausland, oder man wird von Ausländern von den eigenen Absatzmärkten verdrängt werden. Der hauptsächliche Grund dafür, dass die Wirtschaftforschungsinstitute Ihre Herbstprognose gegenüber der Frühjahrsprognose nach unten revidiert haben, war, dass die Investitionen um ein Vielfaches stärker schrumpften, als erwartet worden war. Das ist einerseits ein konjunkturelles Alarmzeichen, aber andererseits wohl auch ein Zeichen für langfristige Probleme. Die Zurückhaltung der Investoren, den wir in diesen Monaten beobachten, ist in diesem Umfang wirklich beängstigend.

Was sollte Ihrer Meinung nach die Regierung dagegen tun?

Sinn: Nun, auch die Regierung hat einen Teil der Verantwortung für die jüngeren Fehlentwicklungen zu tragen, weil sie bei den Lohnnebenkosten, den Steuern und der Ausgestaltung des Sozialstaates keinen Beitrag zur Trendumkehr leistet. Als die Regierung im Herbst nach der Wahl merkte, dass sie die Maastrichtkriterien nicht würde erfüllen können, gab es ja zwei Alternativen: Die Staatsausgaben senken oder die Abgaben erhöhen. Und ohne mit der Wimper zu zucken, hat die Regierung die Abgaben erhöht. Das ist offenbar die Marschrichtung für die Zukunft: Was auch immer an weiteren Schwierigkeiten kommen wird, beispielsweise die demografischen Krise und ein noch weiter zunehmender Niedriglohnwettbewerb, wir werden die Probleme durch eine Ausweitung statt durch eine Schrumpfung des Staates zu lösen versuchen. Das wird dann immer teurer für die Bürger, und wer etwas hat, der muss befürchten, dass man ihn zur Kasse bittet. Diese Erwartungen machen den Investoren immer mehr Angst, und die Karre fährt nur noch tiefer in den Dreck. Um da wieder herauszukommen, müsste die Regierung eine totale Kehrtwende vollführen: Nicht die Abgaben erhöhen, sondern senken und glaubhaft machen, dass sie wirklich jetzt eine Marschroute zur Verringerung der Staatsquote einschlägt, dass sie die Marktkräfte stärken möchte durch weniger Steuern, weniger Sozialleistungen und mehr Eigenverantwortung aller Beteiligten. Wenn dann auch noch die Gewerkschaften mitspielten und der Sozialstaat den Unternehmen nicht mehr soviel Wettbewerb machte, wären auch die Investoren bereit, sich wieder zu engagieren.

Mit Hans-Werner Sinn sprach unser Redakteur Heribert Wachbüsch.