Ifo-Chef Sinn über Reformen, längere Arbeitszeit und Fallstricke der Globalisierung.
Herr Professor Sinn, die unionsregierten Länder haben im Bundesrat die Steuerpläne der Regierung abgelehnt. Eine verpasste Chance?
Warten wir mal ab, was das Vermittlungsverfahren bringt. Die Union beharrt zu Recht darauf, die Steuerreform nicht über neue Schulden zu finanzieren. Wer in der derzeitigen Haushaltskrise die Steuern senken will, muss das gegenfinanzieren können - auch wenn der konjunkturelle Impuls dann verschwindet. Wir müssen den Europäischen Stabilitätspakt einhalten. Den Vertrag haben wir unterschrieben. Nachdem Deutschland in diesem Jahr zum zweiten Mal die gesamtstaatliche Drei-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung verletzt, muss diese Vorschrift 2004 unbedingt wieder erfüllt werden. Andernfalls verspielt Deutschland noch mehr Glaubwürdigkeit als ohnehin schon. Und das wiegt schwerer als der Strohfeuereffekt einer schuldenfinanzierten Steuersenkung.
Heißt das: Sie halten das Vorziehen der Steuerreform eigentlich für überflüssig?
Nein, ich bin klar dafür, aber mit Ausgabenkürzungen. Das Vorziehen der Steuerreform steht für mich indes nicht an der Spitze der Reformen, die Deutschland wieder wettbewerbsfähig machen können. Aus dem Konjunkturtal kommt Deutschland auch ohne Steuersenkungen heraus, weil die Weltwirtschaft und vor allem die US-Ökonomie wieder anzieht. Angesichts der strukturellen Probleme halte ich eine durchgreifende Reform des Sozialstaates, des Arbeitsmarktes und des Tarifrechtes für den entscheidenden Hebel, um zu mehr Beschäftigung kommen. So liegen zum Beispiel die deutschen Arbeitszeiten international am unteren Ende. Im Schnitt arbeiten die Deutschen rund 38 Stunden in der Woche. Zu glauben, das könnte in Zeiten der Globalisierung und des zunehmenden Wettbewerbs so bleiben, wäre verhängnisvoll.
Wie viel mehr sollten es denn sein?
42 Stunden wären eine gute Hausnummer. Bei konstanten Monatslöhnen würden die durchschnittlichen Stundenlöhne um zehn Prozent fallen. Das ist etwa das, was nötig ist, um den Lohnkostennachteil zu kompensieren, den wir in den letzten 20 Jahren gegenüber Holland aufgebaut haben, wo ja das Poldermodell ein Jobwunder geschaffen hatte.
IG-Metall-Chef Jürgen Peters rechnet vor, dass schon eine 40-Stunden-Woche 435 000 Jobs kosten würde - weil die vorhandene Arbeit dann rechnerisch mit weniger Personal erledigt werden könne.
Dahinter steht die falsche Theorie vom gegebenen Jobkuchen. Es werden unter dem Strich keine Jobs verloren gehen, sondern es werden zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Vielleicht nicht sofort, aber mittelfristig. Längere Arbeitszeiten senken die Stundenlohnkosten und machen die Arbeitsplätze international wettbewerbsfähiger.
Gilt das auch für konjunkturelle Krisenzeiten, in denen die zusätzlich produzierten Güter vielleicht gar keine Abnehmer finden würden?
Die Suggestion in Ihrer Frage ist irreführend. Die Welt ist groß. Es gibt genügend Nachfrage für Qualitätsprodukte, die preisgünstig angeboten werden.
Einige große Konzerne sehen das offenbar anders und reduzieren die Arbeitszeit. Opel plant in seinem Rüsselsheimer Werk die 30-Stunden-Woche. Auch die Telekom will ihre Leute weniger arbeiten lassen.
Es ist kein Widerspruch, mehr Arbeitzeit bei gleichem Monatslohn und weniger Arbeitszeit bei geringerem Monatslohn zu fordern. Beides senkt die Lohnkosten, nur im ersten Fall sinken die Lohnkosten pro Stunde und im zweiten pro Monat.
Der Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Clement, Feiertage zu streichen, geht also in die richtige Richtung.?
Im Prinzip ja. Aber so viele Feiertage gibt es in Deutschland gar nicht, um den gleichen Effekt einer 42-Stunden-Woche zu erzielen. Es gibt bei der Arbeitszeit bereits eine Reihe tariflicher Flexibilisierungsmöglichkeiten nach oben, etwa in der Chemie- oder Metallindustrie.
Reicht das nicht?
Die meinen in der Regel eine zeitliche Verschiebung der Arbeitszeit, nicht eine Erhöhung. Die Grundidee eines Arbeitszeitkontos zum Beispiel ist ja, dass Stunden, die angesammelt werden, später wieder durch weniger Arbeit ausgeglichen werden müssen.
In nahezu allen Industrienation ist die Arbeitszeit in den vergangenen Jahren gesunken. Ist dieser Trend beendet?
Ja, und er entwickelt sich in Hochlohnländern sogar wieder in die entgegengesetzte Richtung. Die westlichen Staaten sind immer stärker der Niedriglohnkonkurrenz aus Asien und Osteuropa ausgeliefert. Darauf müssen wir reagieren. Wer anderes behauptet, redet dummes Zeug. Sich dem Wettbewerb zu stellen, heißt nicht, auf das indische Lohnniveau runterzugehen, schließlich haben wir eine höhere Produktivität. Aber: Wir können bei den Arbeitskosten nur so viel teurer sein, wie wir besser sind. Ob wir noch so viel besser sind, wie wir teurer sind, wage ich zu bezweifeln.
Die Arbeitskosten werden auch in der anstehenden Tarifrunde im Mittelpunkt stehen. Die IG Metall will bis zu vier Prozent mehr Lohn fordern. Wie hoch dürfen die Abschlüsse sein, um den Aufschwung nicht zu gefährden?
Die Tarifpartner dürfen den so genannten Verteilungsspielraum aus Produktivitätszuwachs und Inflationsrate auf keinen Fall ausschöpfen - nicht nur 2004, sondern auch für den Rest des Jahrzehnts nicht. Richtig wäre es, den Beschäftigten nur einen Inflationsausgleich zu zahlen, um den Unternehmen Luft für Investitionen zu verschaffen. Dass wir uns für einige Jahre von realen Zuwächsen verabschieden müssen, gilt auch für den öffentlichen Dienst und für die Renten. Gleichzeitig, das ist sehr wichtig, muss endlich das Tarifvertragssystem entschlackt werden.
Also mehr Rechte für die Betriebsparteien?
Ja. Wenn Firmenleitung und Belegschaft sich auf etwas einigen, sollen Gewerkschaft und auch Arbeitgeberverband nicht mehr reinreden dürfen, denn dort sind die Konkurrenten organisiert. Philipp Holzmann, wo die Belegschaft zur Rettung des Betriebes eine Lohnsenkung angeboten hatte, die von Arbeitgeberverband und Gewerkschaft abgelehnt wurde, ist ein warnendes Beispiel.
Die Gewerkschaften argumentieren, die Tarifautonomie sei grundgesetzlich geschützt.
Im Grundgesetz steht explizit nichts über Tarifautonomie, sondern es ist nur von dem Recht die Rede, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Gewerkschaften sind also erlaubt. Mehr steht da nicht. Das deutsche Tarifrecht ist reines Richterrecht und hat sich über Jahrzehnte durch verschiedene Urteile herausgebildet. Daher sehe ich keinen Konflikt mit dem Grundgesetz, wenn man das Kartell der Tarifparteien knackt. Dass Berufe das Recht haben, Kartelle zu bilden, haben die Väter des Grundgesetzes bestimmt nicht gemeint.
Sie geben in Arbeitsmarktfragen den knallharten Marktwirtschaftler. In Ihrem neuen Buch "The New Systems Competition" hört man auch andere Töne: So kritisieren Sie, dass der Staatenwettbewerb auf der Ebene der Steuer- und Sozialsysteme nicht reguliert ist. Ist hier kein Platz für liberale Wirtschaftspolitik?
So ist es. Der Wettbewerb zwischen Staaten funktioniert nicht nach den gleichen Regeln wie der Wettbewerb zwischen Firmen. Es fehlt nicht nur der Preismechanismus. Das Problem liegt tiefer. Staaten werden dort aktiv, wo der Markt versagt. Wenn man die staatlichen Aktivitäten über die Hintertür des Systemwettbewerbs erneut durch den Markt bestimmen lässt, gibt es die gleichen Probleme, derentwegen die Staaten gebildet wurden. Der Systemwettbewerb führt zu übermäßig laschen Regulierungen und verhindert die Besteuerung der international mobilen Produktionsfaktoren. Es ist kein Widerspruch, der eigenen Regierung zu raten, in diesem Wettbewerb durch Deregulierung und Steuersenkungen nationale Interessen zu verfolgen und zugleich dem Wettbewerb skeptisch gegenüberzustehen.
Aber ist der schärfere Wettbewerb zwischen den Staaten nicht die natürliche Konsequenz der Globalisierung?
Richtig. Und dieser Wettbewerb wird weltweit zu gravierenden und bisher noch heruntergespielten Veränderungen führen. So müssen wir damit rechnen, dass der Sozialstaat in den nächsten Jahren in einem Ausmaß unter Druck gerät, an das heute noch keiner denken mag. Deshalb sage ich ja: Ein unregulierter Wettbewerb etwa der Sozialsysteme von Deutschland und Polen wäre ökonomisch unsinnig.
Was bedeutet dies für Deutschland ?
Spätestens mit der EU-Osterweiterung werden wir erleben, dass unser Sozialstaat überbeansprucht wird, wenn die Politik nicht reagiert. Die Lohnunterschiede zwischen den meisten jetzigen EU-Ländern und Polen oder Tschechien sind so groß, dass viele Arbeitskräfte gen Westen wandern werden. Die westlichen Sozialstaaten werden in eine Art Abschreckungswettbewerb gegenüber Armutsflüchtlingen gezwungen, dem alsbald der Ruf nach einer Harmonisierung der Sozialsysteme folgen wird - zumal die neue EU-Verfassung hierfür die Basis bietet. Die Harmonisierung der Sozialsysteme würde zu einer Massenarbeitslosigkeit in den schwächeren Regionen Europas führen. Damit es nicht so weit kommt, sollten die westeuropäischen Staaten ihre Sozialsysteme nach außen abschotten. Arbeiter aus anderen EU-Staaten, gemeint sind hier natürlich vor allem die Länder Osteuropas, sollten während einer Übergangszeit von mehreren Jahren nach der Zuwanderung von einigen der steuerfinanzierten Sozialleistungen ausgeschlossen werden. In der Zwischenzeit müsste ihr Heimatland für eine ergänzende soziale Absicherung zuständig bleiben. Eine solche verzögerte Integration würde die rasche Herstellung von Freizügigkeit erlauben und die ökonomische Integration Europas beschleunigen.
SVEN AFHÜPPE/BERT LOSSE