Der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, hat mit seinen Äußerungen zur Freizügigkeitsrichtlinie der EU eine heftige Diskussion über eine Migration in den Sozialstaat und deren Folgen angestoßen.
Die Netzeitung sprach mit Sinn über die Kritik des Gesundheitsministeriums, Auswirkungen auf den deutschen Sozialstaat und möglichen Maßnahmen, um der Entwicklung entgegenzuwirken.
Netzeitung: Herr Professor Sinn, Ihre Äußerungen über die EU-Freizügigkeitsrichtlinie haben Ihnen in der Öffentlichkeit heftige Kritik eingebracht. Das Gesundheitsministerium zweifelt an der wissenschaftlichen Fundiertheit Ihrer Aussagen.
Hans-Werner Sinn: Das ist mir nicht bekannt. Meine Aussagen sind allerdings in der Presse ziemlich verzerrt dargestellt worden, so als wollte ich vor der Immigration warnen, die uns aus Osteuropa erwartet. In Wahrheit betone ich immer wieder, wie wichtig die Ost-West-Migration während der Transformation der osteuropäischen Länder zu funktionierenden Marktwirtschaften ist. Migration, die durch Lohnanreize hervorgerufen wird, ist grundsätzlich sehr nützlich für die beteiligten Länder.
Die Lohndifferenzen, die die Migration bewirken, sind nämlich ein Maß für den europäischen Wachstumsgewinn, der durch diese Migration entsteht. Deswegen bin ich auch gegen die Mengenbeschränkungen, die sich Deutschland für einen Zeitraum von bis zu sieben Jahren ausbedungen hat. Sie widersprechen dem Geist der römischen Verträge. Kritisch sehe ich allerdings die Migration, die durch die westeuropäischen Sozialstaaten hervorgerufen wird.
Netzeitung: Was meinen Sie damit?
Sinn: Wohlfahrtsstaaten wie die Bundesrepublik wirken wie Magnete für die Armen anderer Länder. Es gibt drei Formen der Immigration in den Wohlfahrtsstaat. Die erste Form ist die direkte Immigration eines Arbeitnehmers samt seiner Familienangehörigen in den Sozialstaat. Der Arbeitnehmer zahlt Steuern und Versicherungsbeiträge und partizipiert an allen staatlichen Leistungen wie die Inländer. Da er in der Regel schon wegen seiner Sprachdefizite nur einen unterdurchschnittliches Lohn selbst erwirtschaften kann, kommt er in den Genuss der staatlichen Umverteilung von Reich zu Arm, die nun einmal den Sozialstaat kennzeichnet.
Zwar zahlt er Steuern und Beiträge, aber er bekommt in Form der freien Nutzung der öffentlichen Infrastruktur sowie des Bezugs von Versicherungsleistungen und öffentlichen Transfers mehr zurück, als er zahlt. Nach unseren Berechnungen auf der Basis des sozioökonomischen Panels lagen die jährlichen Nettokosten des Staates pro Immigrant im Jahr 1997 bei rund 2400 Euro pro Kopf, wenn die Einwanderung nicht länger als zehn Jahre zurückgelegen hatte.
"Zu viel Migration von gering Qualifizierten"
Netzeitung: Und die anderen Formen?
Die zweite Form ist die indirekte Immigration von Arbeitnehmern auf dem Wege der Verdrängung einheimischer Arbeitnehmer in den Sozialstaat. Die Zuwanderer besetzen die freien Stellen und anstatt sich auf eine Niedriglohnkonkurrenz einzulassen, lassen sich die Einheimischen in den Sessel drängen, den der Sozialstaat für sie bereit hält. Das Problem ist insbesondere die Sozialhilfe. Sie erzeugt eine starre Lohnuntergrenze, die verhindert, dass die Zuwanderung zu einer Lohnsenkung für einfache Arbeit führt, was die Voraussetzung für die Schaffung neuer Stellen wäre.
Es findet zu viel Migration von gering Qualifizierten statt, weil die Löhne der gering Qualifizierten künstlich durch die Sozialhilfe hochgehalten werden, und die Migration wird für den Sozialstaat teuer, weil er die verdrängten Einheimischen, die zu ihm kommen, bezahlen muss. Diese indirekte Migration in den Sozialstaat war in der Vergangenheit riesig. Von 1970 bis 2002 sind netto cirka 3,1 Millionen Beschäftigungsverhältnisse für Zuwanderer begründet worden, während die Zunahme der Arbeitslosen unter den Einheimischen bei 3,2 Millionen lag.
Die dritte Form, die direkte Migration von Nicht-Erwerbspersonen, war bislang unter den EU-Ländern nicht besonders wichtig. Nur die Asylanten fielen in diese Kategorie. Nun ist dieser Typ von Migration allerdings durch eine neue Freizügigkeitsrichtlinie der EU, die innerhalb von zwei Jahren in deutsches Recht umgesetzt werden muss, erleichtert worden. Sogar Osteuropäer kommen trotz der Beschränkung der Wanderung von Gastarbeitern sofort in den Genuss der Erleichterung.
Netzeitung: Worin liegt die Erleichterung?
Sinn: Nicht-Erwerbstätige können eine Aufenthaltsgenehmigung von bis zu fünf Jahren beanspruchen. Sie müssen anfangs einen Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel nachweisen, die für die Zeitdauer der Genehmigung reichen. Abgesehen davon, dass es sich bei den Existenzmitteln nicht um feste Beträge, sondern von der Situation des Einzelnen abhängige Mittel handelt, liegt die Neuigkeit gegenüber dem heutigen deutschen Recht nun vor allem in den beiden folgenden Punkten.
Erstens besteht nach den fünf Jahren ein Daueraufenthaltsrecht, ohne dass hierfür Existenzmittel oder ein Krankenversicherungsschutz nachgewiesen werden müssen. Es besteht dann das ungeschmälerte Recht auf dauerhaften Bezug der Sozialhilfe. Zweitens ist eine während der fünf Jahre auftretende Sozialhilfebedürftigkeit kein Ausweisungsgrund mehr. Vom Grundsatz hat der Zugewanderte auch schon vor Ablauf der von ihm beantragten Aufenthaltsfrist das Recht auf Sozialhilfe, wenn ihm das seine Existenzmittel abhanden kommen. Nur, wenn er die Sozialhilfe unangemessen in Anspruch nimmt, darf sie ihm verweigert werden.
Ausweisen darf der Staat in der Regel nicht
Netzeitung: Das Gesundheitsministerium widerspricht und sagt, es gebe kein Recht auf Migration in den Sozialstaat. So schreibt das Ministerium: "Ein Aufenthaltsrecht besteht nur dann, wenn ein Krankenversicherungsschutz sowie eine Erwerbstätigkeit bzw. im Falle der Nichterwerbstätigkeit ausreichende Existenzmittel nachgewiesen werden. Werden Nichterwerbstätige sozialhilfebedürftig, so kann deren Aufenthalt beendet werden (Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 - Freizügigkeitsrichtlinie)".
Sinn: Ich weiß nicht, woher Sie dieses Zitat haben. Es ist jedenfalls unvollständig insofern, als das Daueraufenthaltsrecht übersehen wird, das nach fünf Jahren automatisch auch dann kommt, wenn man keine Existenzmittel und keinen Krankenversicherungsschutz hat. Und zweitens ist die Aussage nicht richtig. In Artikel 14.3 der Richtlinie heißt es wörtlich: "Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen durch einen Unionsbürger oder einen seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen." Damit folgt die Richtlinie der Rechtsprechung des EuGH vom 20. September 2001 zur Klage des französischen Staatsangehörigen Rudy Grzelcyk.
Grzelcyk war ein französischer Student in Belgien, der aufgrund der Versicherung, er sei finanziell versorgt, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen hatte. Dann war ihm das Geld ausgegangen, und er beantragte Sozialhilfe, was der belgische Staat zum Anlass nahm, seine Aufenthaltsgenehmigung zurückzuziehen. Die Klage des Studenten vor dem EuGH bestätigte, dass der belgische Staat nicht zur Verkürzung des Aufenthaltsrechts berechtigt war und die Unterstützung zahlen musste.
Netzeitung: ... also ist eine Ausweisung nicht möglich?
Sinn: Ausweisen darf der Staat wegen des Sozialhilfebezugs in der Regel nicht. Er darf es nur im Ausnahmefall, nämlich gemäß der Ziffern 10 und 16 der Präambel der Richtlinie nur, wenn die Sozialhilfe in unangemessenem Umfang in Anspruch genommen wurde. Und was angemessen und unangemessen ist, darf der deutsche Staat nicht nach eigenem Belieben definieren, sonst hagelt es wieder Klagen beim EuGH. Auch die neue EU-Verfassung gewährt nämlich mit Artikel II 34 diese Rechte.
Aber davon ganz abgesehen übersieht das Ministerium die direkte Migration der Arbeitnehmer in den Sozialstaat genauso wie deren indirekte Migration durch die Verdrängung Einheimischer vom Arbeitsmarkt. Das sind empirisch die beiden Haupteffekte, und nicht die Migration der Nicht-Erwerbstätigen. Die Migration der Nicht-Erwerbstätigen in den Sozialstaat ist nur ein zusätzlicher Effekt, der wegen der neuen Richtlinie zu erwarten ist.
In 50 Jahren werden wir US-Verhältnisse haben
Netzeitung: Sie behaupten, die Konsequenz sei, dass es eine Agenda 2010 nach der anderen geben wird, und prophezeien amerikanische Verhältnisse. Ist das Problem wirklich so gravierend?
Sinn: Wohlgemerkt: Die Konsequenz aller drei Migrationseffekte, nicht die Konsequenz der Freizügigkeitsrichtlinie allein. Davon bin ich in der Tat überzeugt - und nicht nur ich. Das ist die gängige Lehrmeinung in der volkswirtschaftlichen Theorie des Systemwettbewerbs. Zu den Zielen der neuen EU-Verfassung gehört die Sozialstaatlichkeit, das Niederlassungsrecht für jedermann und das Prinzip der sozialen Inklusion oder Nicht-Diskriminierung zwischen In- und Ausländern.
Das sind alles drei hehre Ziele, aber sie passen nicht zusammen. Wenn wir den Prozess so laufen lassen, wie er heute angelegt ist, wird der Sozialstaat unweigerlich erodieren, weil die Sozialstaaten auch weiterhin das Ziel der Wohlfahrtsmigration bleiben und deshalb finanziell noch weiter in die Knie gedrückt werden. Schon um nicht zum Ziel weiterer Wohlfahrtsmigration zu werden, wird jeder Sozialstaat versuchen, etwas weniger großzügig als die anderen Sozialstaaten zu sein, und dabei wird der die Institution Sozialstaat erodieren. In 50 Jahren werden wir in dieser Hinsicht amerikanische Verhältnisse haben.
Netzeitung: Was kann dagegen getan werden?
Sinn: Den Sozialstaat gilt es zu schützen. Er ist ein hohes Gut und eine historische Errungenschaft Europas. Auch die freie Migration darf nicht verhindert werden, denn sie gehört zu den Grundrechen, die in den Römischen Verträgen definiert sind. Die Freizügigkeit ist ein Wert an sich, und unter idealen Voraussetzungen hat sie die oben erwähnten Wachstumseffekte zur Folge.
Deshalb sollte das Inklusionsprinzip geopfert werden. Für Arbeitnehmer muss es ein Prinzip der selektiv verzögerten Integration geben, ähnlich wie in England und Irland. Und für Nichterwerbstätige sollte ein Heimatlandprinzip gelten. Wenn ein EU-Bürger in ein anderes Land einwandert, kann er das ohne Begrenzung tun, aber wenn er als Nicht-Arbeitnehmer sozialhilfebedürftig wird, muss er sich an sein Heimatland wenden.
Netzeitung: Selektiv verzögerte Integration - was heißt das?
Sinn: Es bedeutet, das die zugewanderten Erwerbspersonen zwar ihre Steuern und Beiträge zahlen, den freien Zugang zur staatlichen Infrastruktur haben und alle beitragsfinanzierten Leistungen des Staates ungeschmälert erhalten, doch während einer Übergangsphase nicht in den Genuss bestimmter steuerfinanzierter Sozialleistungen kommen.
Es werden so viele Leistungen aus dem Katalog der steuerfinanzierten Sozialleistungen herausgenommen, dass die restlichen Gesamtleistungen des Staates inklusive der frei zur Verfügung gestellten Infrastruktur in etwas den Steuern und Beiträgen entsprechen, die die Zuwanderer selbst zahlen. Zum Beispiel könnte das Wohngeld oder die Sozialwohnung auf die Streichliste gesetzt werden. Die Devise ist: Jeder kann wandern, wohin er will, aber er bekommt keine Geschenke.
Das Gespräch führte Marcus Gatzke.