INTERVIEW lfo-Präsident Sinn rechnet mittelfristig mit 300 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen
Frage: Herr Professor Sinn, die Agenda 2010 soll die Binnenwirtschaft wieder in die Lage versetzen, Konjunkturimpulse aufzunehmen und in mehr Wachstum umzusetzen. Glauben Sie an einen Erfolg?
Sinn: Ja, aber nicht in diesem Aufschwung. Das dauert länger. Die strukturellen Verbesserungen wirken langsam, dafür aber nachhaltig. So wird die Kürzung der Arbeitslosenhilfe die Arbeitslosen veranlassen, ihre Lohnansprüche zu senken, und zu niedrigeren Löhnen werden mehr Stellen geschaffen. Wir rechnen dadurch mittelfristig mit bis zu 300 000 neuen Arbeitsplätzen. Die Agenda 2010 hat gute Elemente, sie hat aber auch Kritikwürdiges, und sie geht nicht weit genug.
Frage: Was kritisieren Sie?
Sinn: Dass beim Arbeitslosengeld II die Hinzuverdienstmöglichkeit für sehr geringe Einkommen verbessert wurde, war gut. Nicht gut war, dass der Regelsatz des Arbeitslosengeldes II, den man ohne Arbeit bekommt, nicht abgesenkt wurde. Dadurch entstehen erhebliche finanzielle Lasten für den Staat, und die Hinzuverdienstmöglichkeiten müssen bei etwas höheren Einkommen um so drastischer beschränkt werden, um ein finanzielles Fiasko für die Staatskasse zu vermeiden. Vollzeitarbeitnehmer in den niedrigsten Lohngruppen im Bereich von 1500 Euro bis etwa 2000 Euro werden feststellen, dass sie bei einer Halbierung ihrer Arbeitszeit fast keine Einkommenseinbußen haben. Deshalb werden sich viele teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausklingen.
Frage: Die Wirtschaft setzt auf Arbeitszeiterhöhung bei gleichem Lohn. Macht die 40- Stunden-Woche deutsche Arbeitsplätze international konkurrenzfähiger?
Sinn: Ja, denn das bedeutet eine fünfprozentige Reduzierung der Lohnkosten pro Stunde. Ferner entsteht auch ein Wachstumsschwung, der die Nachfrage erhöht.
Frage: Sichert die Arbeitszeiterhöhung bestehende Arbeitsplätze oder schafft sie neue?
Sinn: Das weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, wie sich der weltweite Wettbewerb über die nächsten Jahre verändern wird. Wenn die äußeren Verhältnisse so blieben wie sie sind, könnten wir nach etwa einem Jahrzehnt mit einer Halbierung der Arbeitslosenquote rechnen. Wenn auf breiter Front die Arbeitszeit auf 42 Wochenstunden ohne Lohnausgleich erhöht wird, würde die Arbeitslosigkeit unter sonst gleichen Bedingungen sogar weit gehend verschwinden. Leider bleiben die Bedingungen aber nicht so, wie sie sind. Ich befürchte, dass die notwendigen Anpassungen viel größer sein werden, der Wind des Wettbewerbs immer stärker wird. Wir werden vermutlich zusätzlich auf die gewohnten Lohnsteigerungen verzichten müssen.
Frage: Blasen die Arbeitgeber nicht auch zum Kampf auf den Flächentarifvertrag?
Sinn: Das sehe ich nicht, denn bei den großen Firmen sind die betrieblichen Verträge ohnehin üblich. Der wirkliche Kampf gegen den Flächentarifvertrag steht noch aus.
Frage: Nun marschiert die Wirtschaft ja nicht geschlossen in Richtung mehr Arbeitszeit. Einige Unternehmen wollen in die Gegenrichtung. Wie passt das zusammen?
Sinn: Die Arbeitszeitverkürzung ist die Implikation der Hochlohnpolitik vergangener Jahrzehnte. Es geht dabei nur darum, die Vernichtung von Arbeitplätzen gleichmäßig umzulegen. Das führt zu gar nichts. Wir müssen mehr arbeiten, weil das Sozialprodukt dann wächst und weil niedrigere Stundenlöhne außerdem mehr Arbeitsplätze entstehen lassen oder zumindest den Abbau verlangsamen.
Das Interview führte Dieter W. Heumann