NACHGEFRAGT: HANS-WERNER SINN
Herr Professor Sinn, befürchten Sie einen weiteren Anstieg der Inflation?
Nein, aber ich erhoffe ihn, jedenfalls für Europa. Für den Euro-Raum rechnen wir dieses Jahr mit einer durchschnittlichen Teuerung von 2,1 Prozent - im nächsten Jahr mit 1,9 Prozent. Das ist zu wenig für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung. 2,5 Prozent Teuerung ist nach der Meinung der European Economic Advisory Group at CESifo das richtige Maß. Insofern sollte niemand über den leichten Preisanstieg besorgt sein. Viel Inflation ist schlecht, doch keine Inflation zu haben, ist auch schlecht, weil dann die im Strukturwandel stets notwendige Änderung der relativen Lohnstrukturen innerhalb der Länder und zwischen ihnen erschwert ist. Inflation ist ein Schmiermittel der Ökonomie. Wenn zu viel Öl im Motor ist, verrußen die Kerzen, und wenn zu wenig drin ist, gibt es einen Kolbenfresser. Die Europäische Zentralbank (EZB) muss aufpassen, dass der Wachstumsmotor nicht zum Stillstand kommt. Die Inflationswarnungen, die jetzt von ihr vorgebracht werden, sind deplatziert. Die USA haben das richtige Inflationsniveau. In Deutschland wird die durchschnittliche Inflationsrate wieder sinken. Sie wird in diesem Jahr nach unserer Schätzung bei 1,6 Prozent und im nächsten Jahr bei 1,4 Prozent liegen.
Aber birgt eine hohe Inflation nicht auch Gefahren?
Inflation belegt die Geldhalter mit einer Steuer und impliziert eine unnötige und schädliche Flucht in die Sachwerte. Die Menschen versuchen, ihre Geschäfte mit sehr wenig umlaufendem Geld zu erledigen, und vergeuden ihre Zeit mit den Ausweichversuchen. Die reale Geldhaltung verringert sich. Da Geld in .der Herstellung fast nichts kostet, ist das ineffizient. Außerdem schwemmt Inflation auf dem Wege der schleichenden Progression und der Scheingewinnbesteuerung zu viel Kaufkraft in die Hände des Staates und führt zu ungewollten Änderungen der Steuerlasten, die ebenfalls wieder schädliche Ausweichreaktionen hervorrufen. Vor allem macht die Inflation die langfristigen Kapitalmärkte kaputt, weil Festzinskontrakte den Kreditpartnern zu hohe Risiken aufbürden. Die Konsequenz ist ein verringertes Investitionsvolumen.
Rechnen Sie damit, dass in Deutschland wie in den siebziger Jahren eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt?
Ausschließen kann man nichts, doch angesichts der Situation am Arbeitsmarkt ist das für Deutschland und die europäischen Volkswirtschaften wenig wahrscheinlich. Auch bei der letzten Verteuerung des Erdöls im Jahr 2000 gab es weder in Deutschland noch im übrigen Westeuropa eine Lohn-Preis-Spirale. In den siebziger Jahren lief die Lohnpolitik aus dem Ruder, weil Deutschland noch wettbewerbsfähig war und die Gewerkschaften glaubten, sie könnten sich alles erlauben. Zusätzlich gab es im Jahr 1974 den Ölpreisschock. Heute ist alles anders. Das bisschen Ölpreisanstieg ist im Vergleich zu damals nicht der Rede wert, der Staat wird durch Maastricht ausgebremst, und dass die deutsche Arbeit zu teuer ist, haben inzwischen auch einige Gewerkschafter begriffen.
Die Fragen stellte Petra Schwarz.