CASH: Der Dollar wird schwächer und schwächer. Herr Sinn, was bedeutet das für die Weltwirtschaft?
HANS-WERNER SINN: Für die Weltwirtschaft ist das ganz gut. Der schwache Dollar hilft, das amerikanische Leistungsbilanzdefizit abzubauen und dem Kapitalimport der Amerikaner zu verringern.
Umgekehrt leidet der Export nach Übersee, von dem unser Konjunkturaufschwung abhängt.
Das ist richtig. Aber noch wichtiger als die Konjunktur ist, dass wir Kapital haben, mit dem hier zu Lande Arbeitplätze geschaffen werden können. Dem amerikanischen Defizit steht ein deutscher Überschuss in der Leistungsbilanz gegenüber, der eine Kapitalabwanderung von Deutschland nach Amerika verkörpert.
Deutsche und Schweizer würden also besser selbst mehr konsumieren?
Im Gegenteil: Weniger konsumieren, aber mehr investieren. Arbeitsplätze werden nur durch Investitionen geschaffen. Investitionen wiederum können nur durch zwei Arten finanziert werden: durch einen Konsumverzicht oder durch ein Leistungsbilanzdefizit.
Es braucht doch auch Konsum. Autos können bekanntlich keine Autos kaufen.
Das ist Unsinn. Natürlich kaufen Autos Autos. Wenn sich der Kapitalstock der Unternehmen vergrössert, werden mehr Kapitalgüter gekauft, und dazu gehören auch Autos. Aber die Autos sind natürlich nicht die Hauptsache. Wichtiger sind die Maschinen und die Bauleistungen, die nachgefragt werden, indem die Unternehmen investieren. Unsere Volkswirtschaft braucht nicht so viel Konsum wie heute. Sie sollte ihren Absatz besser auf die Investitionen ausrichten. Wenn sie dies tut, schafft sie die Voraussetzung für stärkeres Wachstum und damit mehr Wohlstand in der Zukunft. Irgendwann ist nämlich der Konsum trotz abnehmender Konsumquote höher, als es sonst der Fall gewesen wäre. Ein anfänglicher Konsumverlust wird durch mehr Konsum in der Zukunft belohnt.
Zwei Drittel des Bruttoinlandprodukts bestehen nun mal aus Konsum. Ohne Konsum vernichten Sie Arbeitsplätze.
Das ist eine kurzfristige Perspektive, die sich allein auf den Auslastungsgrad des Produktionspotenzials bezieht. Wenn das Potenzial selbst wachsen soll, muss man auf Konsum verzichten und investieren. Daran führt kein Weg vorbei.
Deutschland leidet derzeit nach allgemeiner Einschätzung an einer eklatanten Nachfrageschwäche.
Ja und nein. Da die Weltwirtschaft boomt wie seit 30 Jahren nicht mehr, ist die deutsche Exportnachfrage dramatisch gestiegen. Mehr Nachfrage hätte der verwegenste Finanzminister durch ein gewaltiges Schuldenprogramm nicht erzeugen können. Das Problem ist nur, dass weder die Investitionsgüternachfrage noch die Konsumgüternachfrage mitmachen. Das hatten wir bislang noch nie bei einem Aufschwung.
Wie erklären Sie sich das?
Deutschland hat ein Lohn-Problem. Wir sind zu teuer. Die Arbeitnehmer sind nicht mehr wettbewerbsfähig.
Wie kann die deutsche Wirtschaft nicht mehr wettbewerbsfähig sein, wo doch der Export boomt?
Nicht die deutsche Wirtschaft hat ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren, sondern die deutschen Arbeitnehmer. Der boomende Export zeigt, dass die Firmen nach wie vor stark sind. Aber sie sind es unter anderem deshalb, weil sie lohnkostenintensive Produktionsteile zunehmend in Niedriglohnländer verlagern. Sie können dann eine Mischkalkulation bei den Löhnen machen, die es ihnen ermöglicht, den Asiaten die Stirn zu bieten. Leider hilft das den deutschen Arbeitnehmern nur sehr bedingt. Wegen der hohen und starren Löhne verschwinden ihre Arbeitsplätze, ohne dass anderswo Ersatz entsteht. Wenn die deutschen Arbeitnehmer davon etwas haben, so nur in dem Sinne, dass viele Firmen ohne Outsourcing ganz dicht machen müssten.
Und was hat das mit der fehlenden Binnennachfrage zu tun?
Weil die Arbeitnehmer nicht mehr wettbewerbsfähig sind, haben sie Angst um ihren Arbeitsplatz und wagen es nicht, langlebige Konsumgüter zu kaufen. Und aus eben diesem Grunde zögern auch die Investoren, ihr Geld in deutsche Arbeitplätze zu investieren. Deshalb verläuft der Konjunkturaufschwung bei uns nicht normal. Das Nachfrageproblem ist eine Folge der Standortschwäche.
Die skandinavischen Länder und England haben ähnlich hohe Lohnkosten. Weshalb haben die kein Problem?
Das Gegenteil ist richtig. Die schwedischen Lohnkosten für Industriearbeiter liegen um ein Fünftel unter den deutschen, und die englischen um ein Viertel. Außerdem haben beide Länder flexiblere Arbeitsmärkte. Mustergültig ist Dänemark, wo die Abschaffung des gesetzlichen Kündigungsschutzes ein Jobwunder geschaffen hat.
Warum soll Outsourcing schlimm sein? Das ist ja nicht schlecht, wenn dafür bessere Arbeitsplätze entstehen.
Genau so ist es. Outsourcing kann im Prinzip als Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung angesehen werden, aber eben nur im Prinzip. Im Konkreten stehen wir vor dem Problem, dass für die in der Industrie abgebauten Arbeitsplätze anderswo kein Ersatz entsteht, weil die Löhne zu hoch sind. Die entlassenen Arbeitnehmer wandern nicht in Jobs mit höherer Wertschöpfung, sondern in die Arbeitslosigkeit. Wir hören mit der schmutzigen Industriearbeit auf. Aber die Menschen arbeiten nicht im sauberen Dienstleistungsbereich. Sie setzen sich vor dem TV-Apparat in den Sessel des Sozialstaates und trinken ihr Bier.
Schon Japan und Korea haben sich von Billiglohnländern zu Champions entwickelt, ohne das Deutschland daran zugrunde ging. Was ist heute anders?
China ist zehnmal grösser als Japan, und Osteuropa ist auch nicht klein. Nach den fetten Jahren kommen nun die mageren Jahre für die deutschen Arbeitnehmer. Der Lohndruck ist unvergleichlich stärker geworden, also er es noch vor zehn, fünfzehn Jahren war.
Wollen Sie, das die Menschen im Westen wegen der Osteuropäer und Chinesen weniger verdienen?
Wenn es nach mir ginge, würden sie viel mehr als heute verdienen, aber es geht hier nicht um Wünsche, sondern um Möglichkeiten. Die Osteuropäer und Chinesen sind nun einmal da, und sie kümmern sich nicht um unsere Wünsche. Wenn wir meinen, wir müssten uns auf ihren Wettbewerb nicht einlassen, dann gehen wir unter. Wenn wir die Löhne verteidigen, wandern mehr und mehr Arbeitsplätze ab. Die Kräfte der Globalisierung wirken hart und unerbittlich. Die deutschen Arbeitnehmer gehören leider nicht zu den Gewinnern dieses historischen Entwicklungsprozesses.
Weshalb sollen dann die Arbeitnehmer nicht gegen die Globalisierung ankämpfen?
Das wäre wie der Kampf von Don Quixote gegen die Windmühlenflügel.
Wird es zu einem neuen Protektionismus kommen?
In den USA sind solche Tendenzen bereits zu beobachten. Ich erwarte, dass Schutzzölle in einigen Jahren auch in Europa zu einem Thema werden.
Sie argumentieren streng ökonomisch. Was Sie beschreiben, wird jedoch unweigerlich politische Folgen haben. Wohlstand kann nur in stabilen politischen Verhältnissen geschaffen werden.
Es stimmt, dass Kapital nur in Länder fliesst, die politisch stabil sind. Das spricht vielleicht gegen China, wo man noch nicht genau weiß, wie sich die Verhältnisse entwickeln. Aber es spricht nicht gegen die neuen EU-Länder in Osteuropa. Der Beitritt hat ihnen die politische Stabilität gebracht, die Investoren verlangen.
Deshalb beginnen auch die Löhne zu steigen.
Ja. Aber selbst bei grosszügigen Annahmen der Lohnangleichung werden die Löhne im Osten im Jahr 2020 kaum 40 Prozent des westdeutschen Niveaus erreichen können. Im besten Fall werden wir in zwei Generation in Ost- und Westeuropa gleiche Löhne haben.
Folglich müssen die westlichen Löhne fallen?
Ich sage nicht, dass die deutschen Löhne auf das tschechische Niveau sinken müssen. Unterstellen Sie mir das nicht. Aber fallen müssen sie schon. Wenn wir sieben Mal so teuer sind, müssen wir sieben Mal so gut sein. Ich bezweifle, dass wir sieben Mal so gut sind wie die Tschechen.
Wie wird die Angleichung der Löhne erfolgen?
Das hängt von der relativen Grösse der Volkswirtschaften ab. China ist glücklicherweise am anderen Ende der Welt. Doch insgesamt ist die Welt der Billiglohnländer so gross geworden, dass dramatische Dinge passieren werden. Es ist mehr als naiv zu glauben, dass unsere Löhne so weiter steigen werden, wie wir es aus der Vergangenheit gewohnt waren, und dass sich die Löhne der anderen Länder unseren einfach anpassen werden. Auch wir werden uns anpassen müssen. Ein Land, dass dies nicht einsieht, wird sich später auf die harte Weise an die Realitäten anpassen müssen. Ein Land das klug ist, wird sich dem Lohndruck der Globalisierung nicht entgegen stellen und damit die Arbeitsplätze erhalten.
Wie man es dreht und wendet, die einfachen Arbeitnehmer sind die Verlierer der Globalisierung?
An diesem Schluss kommt man nicht vorbei. Wer nur einfache Industriearbeit anbietet, hat zu viel Konkurrenz bekommen.
Wie wollen sie bei diesem Trend die politische Stabilität erhalten?
Schwierig. Es werden erhebliche Belastungsproben auf uns zukommen.
Was können wir dagegen tun?
Wir machen die Löhne flexibel, geben dem Druck nach und kompensieren am unteren Rand der Einkommensverteilung durch Sozialzuschüsse. Heute zahlt der Staat, wenn man nicht arbeitet, Arbeitslosenentschädigung und Sozialhilfe beispielsweise. Dieses Geld kann man ja auch für Lohnzuschüsse an die Geringverdiener verwenden. Das hat einerseits den Vorteil, dass die Löhne flexibel bleiben, andererseits den Vorteil, dass eine Verringerung des Einkommens der Geringverdiener vermieden werden kann. Gerade in der Zeit der Globalisierung brauchen wir Sozialpolitik, aber es kann keine Sozialpolitik sein, die auf dem Prinzip des Lohnersatzes aufbaut. Lohnersatz ist Gift für den Arbeitsmarkt, weil der Staat sich als Konkurrent der privaten Wirtschaft betätigt und flexible Lohnreaktionen verhindert.
Der Sozialstaat wird nicht ab-, sondern umgebaut.
Das ist die einzig rationale Reaktion, um die Verlierer der Globalisierung zu schützen.
Löst sich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht schon deshalb, weil aus demografischen Gründen immer weniger Leute auf den Arbeitsmarkt drängen?
Es wird auch weniger Unternehmer geben. Das wird oft übersehen. Deshalb glaube ich nicht an die Entkrampfung des Arbeitsmarktes aus demografischen Gründen. Ich fürchte eher, dass die Dynamik der Volkwirtschaft abnehmen wird, wenn der Nachwuchs der Jungen ausbleibt. Das bedeutet tendenziell eine höhere Arbeitslosenquote.
Deutschland hat sich ökonomisch selbst Fesseln angelegt. Mit dem Euro akzeptiert es seit Jahren zu hohe Realzinsen. Weshalb?
Der Euro hat zu einer Zinskonvergenz in Europa geführt, die den bisherigen Weichwährungsländern, die nun im Euro mitmachen, geholfen hat. Deutschland hat den Vorteil tieferer Zinsen verloren. Zugleich muss sich das Land mühsam auf dem Wege eines Zurückbleibens bei der Preisentwicklung hinter den anderen Euroländern die Wettbewerbsfähigkeit erkämpfen, die man ohne den Euro durch eine Abwertung hätte erzeugen können. Die niedrigere Preissteigerung im Verein mit einheitlichen Nominalzinsen kann man als höhere Realzinsen interpretieren. Richtiger wäre es, hier von einer Senkung der relativen Preise zu reden, die der Reflex der wirtschaftlichen Probleme des Landes ist.
Warum wehrt sich die grösste EU-Volkswirtschaft Deutschland nicht gegen eine Zinspolitik der Europäischen Zentralbank, die ihr schadet?
Es stimmt, dass wir niedrige Zinsen gut gebrauchen könnten. Deutschland hat aber bloss neun Prozent der Stimmen in der EZB. Wir haben zu wenig politisches Gewicht im Vergleich zu unserer Größe. Die vielen kleinen EU-Länder haben jedoch kein Interesse an tieferen Zinsen. Sie profitieren vom grossen Binnenmarkt, und die Zinsen sind tiefer, als sie sich das je erträumt hätten.
Warum übernimmt Deutschland nicht das amerikanische Rezept: Wachstum dank Schulden?
Die USA werden dieses Jahr um rund viereinhalb Prozent wachsen. Sie können sich deshalb auch problemlos eine gewisse Neuverschuldung leisten. Ein Land, das nicht mehr wächst, wie Deutschland, darf aber keine Schulden machen, denn dann wächst die Schuldenquote immer weiter. Außerdem habe wir nicht dieselben wirtschaftlichen Probleme wie die Amerikaner. In Amerika gab es ein Konjunkturproblem, das nun auch durch die Schuldenpolitik überwunden wurde. Wir haben ein Strukturproblem. Da hilft die Verschuldung wenig.
Deutschland schöpft im Gegensatz zu den USA sein Produktionspotenzial nicht aus.
Der amerikanische Arbeitmarkt ist flexibler. Alle Menschen, die arbeiten können, arbeiten auch irgendwie. Bei uns machen zu viele Menschen nicht mit. Aber das meinen Sie wahrscheinlich nicht, denn das gemessene Produktionspotenzial berücksichtigt die Dauerarbeitslosigkeit nicht. Das gemessene Potenzial nutzen wir ganz gut aus. Die OECD sagt, dass bloss 15 Prozent der deutschen Arbeitslosigkeit nachfragebedingt, 85 Prozent jedoch strukturell bedingt sei. Die 85 Prozent verkörpern ein unausgenutztes Potenzial, das man in den normalen Potenzialschätzungen gar nicht erkennt.
Deutschland ist der wichtigste Absatzmarkt der Schweizer Wirtschaft. Ihre Analyse ist sehr pessimistisch. Müssen wir uns Sorgen machen?
Die Schweiz ist tatsächlich eng mit Deutschland verbunden. Deshalb hat sie in den letzten Jahren ebenfalls ein schwaches Wachstum gehabt. Sie leidet aus nachbarschaftlichen Gründen gewissermassen mit uns. Die Schweiz hat so gesehen ein grosses Interesse, dass Deutschland strukturell gesundet.
Ist die Schweiz selbst strukturell gesund?
Die Schweiz ist nicht mehr, was sie vor 20 bis 30 Jahren war. Niedrige Steuern, tiefe Staatsquote, das war einmal. Auch die Schweiz hat den Sozialstaat erstaunlich weit entwickelt.
Würde ein EU-Beitritt der Schweiz daran etwas ändern?
Aus deutscher Sicht wäre ein solcher Beitritt zu begrüssen, dann hätten wir eine Stimme mehr für niedrigere Zinsen und eine auch an mitteleuropäischen Interessen ausgerichtete Wirtschaftspolitik.
Aus Schweizer Sicht?
Das würde ich mir erst noch sehr genau überlegen.
Interview: Philipp Löpfe
Das Interview wurde versehentlich in einer nicht autorisierten Vorfassung veröffentlicht. |