Hans-Werner Sinn wurde am 7. März 1948 in Brake, Westfalen geboren. An der Universität Münster studierte er Volkswirtschaftslehre. Von 1974-1983 war er wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Dort promovierte er 1978, habilitierte sich 1983 mit Venia Legendi für Volkswirtschaftslehre und bekleidete anschließend eine C2-Professur an der Universität Mannheim. Wie schon von 1978-1979 hatte er von 1984-1985 eine Professur im Department of Economics an der University of Western Ontario, Kanada inne. Von 1984-1994 war Hans-Werner Sinn Ordinarius am Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Januar 1991 wurde er zum Direktor des Center for Economic Studies (CES) der Ludwig- Maximilians-Universität München berufen. Seit Februar 1999 ist er Geschäftsführer der CESifo GmbH und Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München.
Politische Studien: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland hat ein beängstigendes Ausmaß angenommen, eine Trendumkehr ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Das Problem droht sich durch die zunehmende Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland noch zu verschärfen. Sind die deutschen Arbeitnehmer international noch wettbewerbsfähig?
Hans-Werner Sinn: Sie sind es zunehmend weniger aus den Gründen, die Sie nennen. Die Osteuropäer und die Asiaten kommen immer mehr ins Geschäft. Die deutschen Firmen bleiben dank Outsourcing wettbewerbsfähig. Die deutschen Arbeitnehmer haben das Nachsehen.
Politische Studien: Angenommen die Lohnkosten würden, beispielsweise durch längere Arbeitszeiten von 42 Stunden pro Woche ohne Lohnausgleich, um 10 % sinken. Würde das ausreichen, um mit den 6-7 mal günstigeren Löhnen in den Mittel- und Osteuropäischen Staaten konkurrieren zu können? Könnte es sein, dass andere Länder auf einen Lohnverzicht in Deutschland ebenfalls mit Lohnzurückhaltung reagieren, sodass im Endeffekt nichts gewonnen ist?
Hans-Werner Sinn: Die Verlängerung der Arbeitszeit wird nicht ausreichen, wäre aber ein wichtiger Schritt. Wir müssen an vielen Fronten kämpfen, um den Wettbewerb zu bestehen. Wir müssen besser und billiger werden, aber besser zu werden ist leichter gesagt, als getan. Ohne Zugeständnisse beim Lohn wird die Massenarbeitslosigkeit weiter zunehmen. Bei Geringverdienern sollte man den Lohnrückgang durch Zuzahlungen des Staates abfedern. Unser Modell der aktivierenden Sozialhilfe weist einen praktikablen Weg. Ich glaube nicht, dass die Welt Deutschland bei einem Lohnverzicht folgen würde, dazu sind wir zu unbedeutend. Und selbst dann, wenn doch einige Westeuropäer nachziehen, wird dieser Weg zum Erfolg führen. Auch dort gibt es ja ähnliche Probleme wie bei uns. Wer sich dem Fall der Löhne widersetzt, wird mit einer Massenarbeitslosigkeit bestraft.
Politische Studien: Nicht nur einfache Arbeitsplätze in der Industrie werden ausgelagert, sondern zunehmend auch qualifizierte Jobs im Dienstleistungsbereich, z.B. in der Computer-Branche. Droht dieses so genannte „Offshoring“ die Hoffnung zunichte zu machen, dass der Stellenabbau in der Industrie durch die Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor ausgeglichen werden kann?
Hans-Werner Sinn: Das Offshoring im Dienstleistungsbereich hat noch keine besonderen Ausmaße angenommen. Aber es ist möglich, dass sich die Konkurrenzlage auch dort verschärfen wird. Das heutige Problem ist das Offshoring und Outsourcing im verarbeitenden Gewerbe, bei dem die einfache Industriearbeit verschwindet. Dadurch gehen viele Arbeitsplätze verloren. Die Verlagerung von Vorleistungsproduktion hält zwar die deutschen Unternehmen wettbewerbsfähig. Die Schiffe fahren weiter, weil sie Ballast abwerfen; aber das ist nur gut für die Schiffe, nicht für den Ballast. Niedrigere Löhne würden den Abbau der Industriearbeitsplätze verhindern und im Dienstleistungssektor mehr Stellen entstehen lassen. Dann würde Outsourcing und Offshoring in einem Umfang betrieben, der auch für Deutschland als Ganzes von Vorteil ist, statt nur für die deutschen Arbeitgeber.
Politische Studien: Glauben Sie, dass Hartz IV sich auch in Ostdeutschland positiv auf den Arbeitsmarkt auswirken wird? Die Ansprüche an die Höhe der Löhne werden zwar sinken, aber viele Politiker dort bezweifeln dennoch, dass genug Arbeitsplätze geschaffen werden. Gibt es im Osten überhaupt „Arbeit in den Köpfen der Arbeitgeber“, also potenzielle Arbeit zu niedrigen Löhnen?
Hans-Werner Sinn: Ja natürlich gibt es Arbeit in den Köpfen der Arbeitgeber. Aber man darf Hartz IV nicht überschätzen, weil am unteren Ende der Lohnskala wegen der hohen Transferentzugsraten immer noch viel zu hohe Lohnansprüche bestehen, als dass Arbeitsplätze in erheblichem Umfang entstehen können. Für Ostdeutschland wird Hartz IV nicht reichen.
Politische Studien: Bleiben wir beim Thema Ostdeutschland: Sie haben die verfehlte Wiedervereinigungspolitik frühzeitig, aber leider vergeblich kritisiert. Unter den Folgen dieser Politik leidet Deutschland noch heute. Wie kann Ostdeutschland vom Tropf wieder los kommen?
Hans-Werner Sinn: Ein Niedriglohnsektor muss mittels der aktivierenden Sozialhilfe sozialverträglich geschaffen werden. Die Löhne können außerdem durch eine Mitbeteiligung an den Betrieben gesenkt werden. Die Regulierungsdichte kann durch mehr Freiräume für die ostdeutschen Länder und durch Konkurrenz zwischen ihnen gesenkt werden.
Politische Studien: Die Sozialquote in Deutschland liegt nach wie vor auf historischem Rekordniveau. Der Einstieg in den Umbau des Wohlfahrtsstaats ist zwar erfolgt, aber weitere Schritte müssen folgen. Welche Maßnahmen halten Sie für vordringlich?
Hans-Werner Sinn: Wir müssen die Rentenbeiträge und den Bundeszuschuss trotz der dramatischen Zunahme der Rentnerzahlen in den nächsten Jahrzehnten deckeln. Zum Ausgleich muss sofort eine allgemeine Sparpflicht eingeführt werden, eine Art Riester II, nur besser gemacht. Dabei würde ich die Kinderreichen von der Sparpflicht ausnehmen und ihnen stattdessen eine Kinderrente gewähren. Frührentner müssen sich mit versicherungsmathematisch korrekten Abschlägen (ca. 8% pro Jahr) begnügen, sollten aber im Ausgleich das Recht zum beitrags- und steuerfreien Hinzuverdienst auf einen neuen Job erhalten. Mittels der aktivierenden Sozialhilfe muss der Sozialstaat zu einer Einrichtung umgebaut werden, die sich verstärkt der Lohnzuschüsse statt des Lohnersatzes bedient.
Politische Studien: Niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, Kürzung der sozialen Leistungen – müssten wir für ein solches Programm nicht einen politischen Preis bezahlen?
Hans-Werner Sinn:Die Alternativen sind politisch noch problematischer, weil sie Weimarer Verhältnisse schaffen könnten. Ein Zuckerschlecken steht Deutschland nicht bevor.
Politische Studien: Eine letzte Frage: Wie beurteilen Sie einen etwaigen Beitritt der Türkei aus ökonomischer Sicht?
Hans-Werner Sinn: Die Probleme Deutschlands in dieser Zeit haben maßgeblich mit der Niedriglohnkonkurrenz zu tun, der unser Land seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgesetzt ist. Wenn wir siebzig Millionen türkische Niedriglöhner in die EU holen, werden diese Probleme noch größer. Wir überspannen den Bogen in wirtschaftlicher Hinsicht, ganz abgesehen von der Frage, wie wir kulturell mit den Türken zurecht kämen.
Politische Studien: Herr Präsident, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Fragen stellte Nicolai von Rimscha, Referent für Wirtschafts-, Finanz und Sozialpolitik, Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München.