Hans-Werner Sinn im Interview.
Ifo-Chef Sinn über Rezepte gegen den langfristigen wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands
Frankreich soll 2035 Deutschland bei Einwohnerzahl und Wirtschaftsleistung überholen. Stehen wir vor einem historischen Abstieg?
Die Geschichte verläuft in Zyklen. Als Napoleon Europa eroberte, gab es mehr Franzosen als Deutsche, zur Zeit des Ersten Weltkriegs war es umgekehrt, jetzt schwingt das Pendel eben wieder zurück.
Das kann doch kaum beruhigen.
Sicher nicht. In der Tat schrumpft die deutsche Bevölkerung prozentual schneller als die Bevölkerung eines jeden anderen Landes. Die Franzosen haben seit langem viel mehr Kinder als die Deutschen, obwohl sie noch das kleinere Land sind. Schon in etwa dreißig Jahren wird es mehr 30- bis 40-jährige Franzosen als Deutsche geben. Und in dieser Generation spielt sich auch die größte wirtschaftliche Dynamik ab.
Deutsch-französische Kriege gibt es allerdings nicht mehr.
Kriege in Mitteleuropa werden zwar nicht mehr geführt – nur kann sich ein Industrieland eine solch rapide Alterung nicht erlauben, wenn es weiter an der Spitze bleiben will. Die niedrige Geburtenrate wird massive Probleme für die Sozialsysteme bringen. Und wenn die Babyboomer in Rente gehen, die jetzt Anfang 40 sind, wird schon aus demographischen Gründen eine längere Stagnation folgen.
Wie schaffen wir die Trendwende?
Deutschland muss große Anstrengungen unternehmen, um bei jungen Menschen den Kinderwunsch zu stärken. Da ist Bundesfamilienministerin von der Leyen auf dem richtigen Weg. Aber wir müssen weiterdenken. Es geht neben der Frage eines Familiensplittings auch um eine Differenzierung der Rente nach der Kinderzahl.
Deutschlands Hauptproblem ist die Arbeitslosigkeit bei Geringqualifizierten. Wie kommen wir da heraus?
Wir müssen den Arbeitsmarkt von den Lohnfesseln der Gewerkschaften befreien – und von dem Mindestlohn, der implizit durch die Lohnersatzleistungen des Sozialstaates…
…wie das Arbeitslosengeld II
…gesetzt wird. Ich plädiere für einen aktivierenden Sozialstaat, der das Mitmachen statt das Wegbleiben bezahlt, und ferner für gesetzliche Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, die den Einzelbetrieben gegenüber ihren Verbänden mehr Macht geben.
Das klingt ziemlich neoliberal.
Ist es aber nicht. Neoliberale wollen die Umverteilungsaktivität des Sozialstaates nicht. Ich will sie indes. Wir brauchen einen starken Staat, um die Verlierer der Globalisierung zu schützen. Aber wir können sie nicht schützen, indem wir, implizit oder explizit, Mindestlöhne setzen. Dann treiben wir sie nur in die Arbeitslosigkeit. Wirklichen Schutz bieten nur Lohnzuschusssysteme. Sie sichern Mindesteinkommen, aber nicht Mindestlöhne.