LINDAU - Hans-Werner Sinn (Jahrgang 1948) ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft und Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. In seinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" (Econ-Verlag) fordert er niedrigere Löhne, weniger Kündigungsschutz und eine radikale Steuerreform. SZ-Redakteur Werner Ludwig sprach mit Sinn über Schulden, EU-Erweiterung und "Aktivierende Sozialhilfe".
SZ: Was halten sie davon, dass die Regierung die Haushaltslöcher mit neuen Schulden stopfen will, um die Konjunktur nicht kaputtzusparen?
Sinn: Das Argument mit der Konjunktur ist ein Vorwand. In Wirklichkeit hat die Regierung Angst, den Wählern mit weiteren Einsparungen auf die Füße zu treten. Im übrigen dürfen wir gar keine neuen Schulden machen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erlaubt nicht mehr als netto drei Prozent Neuverschuldung. Wenn Herr Eichel 1999 und 2000 gespart hätte und die gesamte Staatsverschuldung unter 60 Prozent des Brutto-Inlandsprodukts läge, hätte ich nichts dagegen, das Budgetdefizit von null auf zwei Prozent zu vergrößern, um die Konjunktur anzukurbeln.
SZ: Sie fordern weniger Kündigungsschutz, niedrigere Löhne und weitere Kürzungen von Sozialleistungen…
Sinn: Ich fordere keine niedrigeren Löhne, sondern weise nur darauf hin, dass Chinesen, Polen und andere Wettbewerber niedrigere Löhne erzwingen. Leider gibt es keine Möglichkeit, sich diesem Wettbewerb zu entziehen, denn die anderen fragen ja nicht, ob sie mitmachen dürfen. Richtig ist, dass ich Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz nach dänischem Muster fordere, um die Arbeitslosigkeit zu verringern. Richtig ist auch, dass ich nicht glaube, dass es unser Gemeinwesen dauerhaft aushält, wenn der Staat den Leuten über 57 Prozent des Volkseinkommens wegnimmt und wieder für seine Zwecke verwendet.
SZ: Lassen sich derart harte Reformen überhaupt durchsetzen?
Sinn: Die Frage ist doch, wie groß die Probleme noch werden müssen, bis sich etwas ändert. Je später wir reagieren, desto tiefer werden die Einschnitte sein müssen. Wenn wir die Probleme weiter vor uns herschieben, könnte es irgendwann eine größere Staatskrise geben. Die ersten Schritte der Regierung im Rahmen der Agenda 2010 sind mutig und anerkennenswert, sie gehen aber längst nicht weit genug.
SZ: Wie weit müssen wir noch gehen?
Sinn: Wenn Sie die Reformpolitik mit einem Marathonlauf vergleichen, haben wir allenfalls die ersten fünf Kilometer hinter uns.
SZ: Sie sagen, dass durch die EU-Osterweiterung der Druck auf Löhne und Sozialsysteme weiter zunimmt. Politiker sprechen aber lieber von den Chancen. Ist das nicht blauäugig?
Sinn: Natürlich. Aber die Politiker wollen den Leuten keine Angst machen, denn dann werden sie nicht mehr gewählt. Aber als Ökonom muss ich die etwas kompliziertere Wahrheit aussprechen, dass die Osterweiterung die Reichen reicher macht, aber die Löhne der einfachen Arbeiter unter Druck setzt. Der Kuchen wird zwar größer, aber viele Leute kriegen ein kleineres Stück.
SZ: Warum?
Sinn: Die Osterweiterung bringt 75 Millionen Menschen in die EU, aber kein Kapital und keine funktionierenden Unternehmen. Dadurch bekommen wir eine andere Relation von Menschen und Kapital: Kapital wird knapper, die Menschen werden reichlicher - mit der Folge, dass der Lohn für die menschliche Arbeitskraft unter Druck kommt und die Kapitalgewinne steigen. Das ist ein sehr ungerechter Prozess. Aber wenn man versucht, sich dagegen zu sträuben - indem man wie die Gewerkschaften versucht, die Löhne für einfache Arbeit zu verteidigen - wird die Arbeitslosigkeit weiter steigen. Und man treibt noch mehr Kapital aus dem Land. Dann geht alles kaputt.
SZ: Betroffen sind aber vor allem schlecht ausgebildete Leute…
Sinn: Es gibt Studien, nach denen auch diejenigen mit einem Berufsabschluss zu den Verlieren der Globalisierung gehören. Nur hoch Qualifizierte und Kapitalbesitzer könnten am Ende die Gewinner sein. Dazwischen gibt es einen breiten Graubereich, wo man das nicht so genau weiß. Eines kann man sicher sagen: Diejenigen, die sich nicht bewegen und auf ein Wunder warten, werden zu den Verlierern gehören.
SZ: Aber wie sollen die Menschen bei sinkenden Löhnen für ihren Lebensunterhalt aufkommen?
Sinn: Wir brauchen Zuzahlungen für Geringverdiener. Um diesen Menschen einen hinreichend hohen Lebensstandard zu ermöglichen, muss der Staat ihr Einkommen aufstocken. Ich bin durchaus dafür, den Reichen etwas zu nehmen und den Armen zu geben. Denn die Verteilung, die der Markt hervorbringt, ist nicht gerecht. Aber das Geld, mit dem wir die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft unterstützen, sollten wir nicht - wie bisher - dafür geben, dass sie nicht arbeiten, sondern unter der Bedingung, dass sie es tun - zu welchem Lohn auch immer. Das ermöglicht eine Lohnsenkung bei den gering Qualifizierten, die die Voraussetzung dafür ist, dass sie wieder Stellen finden. Deutschland ist Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten. Das liegt daran, dass der Sozialstaat als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt auftritt, weil er mit seinen Leistungen die Löhne hochtreibt und so Jobs vernichtet.
SZ: Führt Ihre "Aktivierende Sozialhilfe" nicht dazu, dass Leute entlassen und als staatlich subventionierte Billigarbeiter wieder eingestellt werden?
Sinn: Nein, denn auch diejenigen, die bereits beschäftigt sind, werden Lohnzuschüsse erhalten. Der Lohndruck der Globalisierung beschränkt sich ja nicht auf diejenigen, die neu eingestellt werden. Die Aktivierende Sozialhilfe muss deshalb allen Bürgern mit einem hinreichend niedrigen Einkommen offen stehen, auch denen, die schon einen Job haben.
SZ: Wer soll das bezahlen?
Sinn: Auch heute gibt der Sozialstaat eine Menge Geld aus. Das Modell des Ifo-Instituts kostet keinen Cent mehr, weil nur umgeschichtet wird. Das Modell ist so konstruiert, dass weniger Geld für das Nichtstun und mehr für das Mitmachen ausgegeben wird. Zwar erhalten mehr Leute Geld vom Staat als heute, aber pro Kopf kann es viel weniger sein, weil ja ein eigenes Arbeitseinkommen vorhanden ist.
SZ: Aber billiger wird es auch nicht…
Sinn: Doch, es entsteht sogar ein Plus von sieben Milliarden Euro. Trotzdem stellen sich die Ärmsten, die bisher nur Sozialhilfe bekamen, besser. Sie haben einen Job und durch die Zuzahlung vom Staat unterm Strich mehr Geld als vorher. Der Sozialstaat wird also nicht nur leistungsfähiger, sondern auch sozialer.
SZ: Glauben Sie wirklich, dass sich ihr Konzept politisch umsetzen lässt?
Sinn: Ich meine schon. Die Politik hat sich ja schon ein Stück weit bewegt und zum Beispiel die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Sozialhilfeempfänger bei ganz niedrigen Einkommen verbessert. Wenn die Leute mehr dazuverdienen dürfen, muss man aber auf der anderen Seite die Sozialhilfe absenken. Sonst muss der Staat bei etwas höheren Einkommen die Hilfen drastisch beschneiden, damit die Kosten beherrschbar bleiben. So ist es bei der Agenda 2010, die bei Einkommen zwischen 900 und 2100 Euro zu einem extremen Rückgang der Transferzahlungen führt. Wer in diesem Einkommensbereich liegt, wird auch bei einer Verringerung seiner Arbeitszeit praktisch genauso viel Geld in der Tasche haben wie wenn er voll arbeiten würde. Die Folge ist, dass sich viele für Halbtagsstellen entscheiden und auf dem Schwarzmarkt nach Alternativen suchen werden.