Hans Werner Sinn ist Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (ifo) in München und einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands. Seit Jahren fordert er vor allem eines: Reformen, Reformen, Reformen. Ein Expertengespräch über das Prädigen
DER PROPHET gilt bekanntermaßen nichts im eigenen Land. Auch bei Hans-Werner Sinn ist das so. Seit Jahr und Tag rät der Chef des Münchner Ifo-Instituts der Politik mehr oder minder dieselben Dinge, ohne dass sich wirklich grundlegende Änderungen eingestellt hätten. Zumindest über mangelndes öffentliches Interesse kann er sich seiner Meinung nach aber nicht beklagen. Anderen schenkt Sinn nicht immer so viel Aufmerksamkeit, wie er selbst bekommt: Bei mancher Predigt sei er schon eingeschlafen.
Welt am Sonntag: Herr Sinn, wann sagten Sie Ihrer Meinung nach folgenden Satz: „Bei den Steuern brauchen wir substanzielle Entlastungen statt bloßer Retuschen"?
Hans-Werner Sinn: Das hört sich so an, als wäre es vor der letzten Steuerreform gewesen, vielleicht im Jahr 2000.
Welt: Sehr gut, damit liegen Sie nur knapp daneben. Das haben Sie vor acht Jahren der „Süddeutschen Zeitung" gesagt. Und wann würden Sie folgende Aussage einordnen: „ Unser Arbeitsmarkt ist viel zu starr und braucht mehr Flexibilität."
Sinn: Ach, das habe ich schon häufig gesagt. Wann genau, weiß. ich aber nicht.
Welt: Auch das ist acht Jahre her. Und damit sind Sie nicht allein. Viele deutsche Ökonomen sagen eigentlich immer dasselbe: Die Steuern sind zu hoch, der Kündigungsschutz ist zu stark, die Subventionen müssen weg. Finden Sie das nicht ermüdend?
Sinn: Ja, aber hin und wieder sage ich doch auch mal was Neues, oder etwa nicht?
Welt: Meinen Sie? In einem Artikel von 1996 habe ich von Ihnen gelesen, dass die Arbeitnehmer stärker von steigenden Kapitaleinkommen profitieren, also Gewinnbeteiligungen und solche Dinge bekommen sollen. Bedeutend weitergekommen sind wir seitdem nicht, die Politik diskutiert immer noch darüber.
Sinn: Nun, steter Tropfen höhlt den Stein. In aller Bescheidenheit glaube ich außerdem schon, dass diese Botschaften auch gewisse Erfolge gebracht haben.
Welt: Aber insgesamt passiert doch wenig. Warum hören die Politiker nicht mehr auf Sie, Ihrer Meinung nach?
Sinn: Ökonomen sagen die Wahrheit, und das ist vielfach unangenehm. Scharlatane, die das Schlaraffenland auf Erden preisen, haben es manchmal leichter.
Welt: Fühlen Sie sich manchmal wie ein Wanderprediger, der einsam und allein durchs Land zieht?
Sinn: Ja, das sehe ich als meine Aufgabe als Ifo-Chef an.
Welt: Nirgendwo gilt ein Prophet weniger als in seiner Heimat.
Sinn: Das Sprichwort kenne ich, aber ich würde nicht sagen, dass es auf mich zutrifft. Zum einen verbreite ich keine Prophezeiungen, sondern wissenschaftliche Aussagen. Zum anderen habe ich nicht das Gefühl, mich über mangelndes Gehör beklagen zu müssen.
Welt: Wie viel Volksnähe verträgt eine Wissenschaft? Häufig verkommen öffentliche Diskussionen über Ihre Themen zum heiteren, allseitigen Plattitüdenaustausch.
Sinn: Das wird gern Talkshows wie etwa der von Frau Christiansen vorgeworfen. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Die wissenschaftliche Forschung geht davon unabhängig weiter. Nur müssen Sie anschließend diese Erkenntnisse in so einfache Worte fassen, dass man sie auch am Stammtisch versteht und dann darüber diskutieren kann.
Welt: Etwas Bedarf scheint es da noch zu geben, mittlerweile mischen sich ja schon Popstars mit beachtlichem Erfolgen in die politische Diskussion ein.
Sinn: Wie das denn? In Form eines Liedes?
Welt: Eher direkter. Bono, der Sänger der Popband U2, hat erst vor zwei Wochen in Berlin Kanzlerin Angela Merkel getroffen. Dort hat er ihr erklärt, wie sich die Welt vor Hunger und Armut retten ließe.
Sinn: Das ist ja schön und gut. In unserer pluralistischen Gesellschaft hat jeder das Recht, seine Meinung zu sagen. Aber die Politik sollte doch lieber den Fachleuten statt den Laien zuhören.
Welt: Haben Sie selbst einmal zu drastischeren Maßnahmen als dem Wort gegriffen, um Ihre Meinung zu vertreten? Haben Sie schon mal demonstriert?
Sinn: Selbstverständlich, ich. bin ja 68er. Als ich 1967 angefangen habe zu studieren, war unglaublich viel los an den Universitäten. Um Demonstrationen kam man damals gar nicht herum. Wir haben aber gegen alles demonstriert. Sowohl gegen den Vietnamkrieg als auch gegen den Einmarsch der Russen in die tschechische Republik im Sommer 68.
Welt: Heute gehen die Menschen gegen den anstehenden G-8-Gipfel im Juni in Heiligendamm auf die Straßen. Können Sie diese Proteste verstehen?
Sinn: Nein, ehrlich gesagt nicht. Denn die Regierungschefs treffen sich, um über Entwicklungshilfe und das Umweltproblem zu beraten und wie man Afrika helfen kann. Dass man dagegen demonstriert, halte ich für abwegig. Denn die Globalisierungskritiker haben ja immer gefordert, dass internationale Vereinbarungen zustande kommen, um die Probleme der Welt gemeinsam zu lösen. Und der G-8-Gipfel ist ein Schritt in diese Richtung.
Welt: An welche grundsätzlichen Dinge glaubt eigentlich ein Ökonom?
Sinn: An die Werte der Humanität.
Welt: Gehen Sie in die Kirche?
Sinn: Leider viel zu selten.
Welt: Sind Sie bei der Predigt schon mal eingeschlafen?
Sinn: Bei der Predigt von anderen schon. Bei der eigenen noch nicht.
Welt: Sind Sie einem brillanten Redner schon mal auf den Leim gegangen?
Sinn: Ich?
Welt: Ja. (Langes Schweigen)
Sinn: Nein, glaube ich. Ich war immer schon sehr skeptisch.
Welt: Aber eine flüssige Sprache ist doch durchaus von Vorteil.
Sinn: Ich habe zu viele Leute kennengelernt, die eine falsche oder schiefe Argumentationskette hinter einer eleganten Sprache verbergen. Dabei haben gerade rednerisch nicht so gewandte Menschen häufig die besseren Argumente.
Welt: An wen denken Sie dabei?
Sinn: Ein gutes Beispiel ist der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Für die Linken ist er eine Galionsfigur, weiß der Himmel, woher das kommt.
Welt: Er kritisiert ganz offen US-Präsident George W. Bush.
Sinn: Ja, aber er verwendet in der Diskussion die gleichen Argumente wie andere Ökonomen auch. Stiglitz jedenfalls redet sehr stockend und mit vielen Ähs in seinen Sätzen. Aber was er sagt, hat Hand und Fuß und ist fast immer nachvollziehbar. Man kann sich über das Gewicht seiner Argumente streiten, falsch sind sie selten.
Welt: Offenbar kann aber schon der Glaube an den Aufschwung die Laune ganz gewaltig heben. Das sieht man ja jetzt gerade.
Sinn: Wenn die Leute gute Nachrichten hören, steckt sie das an. Das kann dann aber aus dem gleichen Grund auch wieder schnell kollabieren. Fälschlicherweise glauben die Menschen ja, dass der aktuelle Zustand für immer anhält. Dabei ist die Wirtschaft ein ewiges Auf und Ab. Alle fünf Jahre wird's besser, und dann wird's wieder schlechter. Das haben wir schon immer so gehabt. Und das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auf der ganzen Welt.
Das Gespräch führte Viktoria Unterreiner