Exklusiv-Interview mit dem Präsidenten des IFO-Instituts, Prof. Hans-Werner Sinn
Herr Prof. Sinn, die Große Koalition hat nunmehr die Hälfte der Legislaturperiode geschafft. Top-Manager geben ihr durchwegs gute Noten. Wie fällt ihre Bewertung aus?
Sinn: Die hier erwähnten Topmanager geben keine guten, sondern nur noch befriedigende Noten. Und ich würde auch nicht höher gehen. Nach meiner Meinung ist die Leistung gerade einmal ausreichend, um bei den Schulnoten zu bleiben. Ich hätte ein „befriedigend“ gegeben, wenn die Regierung nur das Budget konsolidiert und sonst keine Reformen zur Belebung des Arbeitsmarktes gemacht hätte. Sie hat jedoch die notwendigen Arbeitsmarktreformen nicht nur versäumt, sondern Schröders „Agenda 2010“ sogar noch zurückgedreht und das führt zu einer Abwertung.
Wie groß ist die Gefahr, dass durch den Linksrutsch der SPD die Reformdividende wieder verspielt wird, Deutschland wieder zu den alten sozialpolitischen Pfaden zurückkehrt?
Sinn: Diese Gefahr ist sehr groß. Dadurch, dass die Partei „Die Linke“ gegründet wurde, haben wir heute strukturell andere Verhältnisse. Die Gründung der linken Partei hat ja nun auch schon impliziert, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nur noch eine hauchdünne Mehrheit bei der letzten Wahl hatte. Und die neue linke Partei zwingt die SPD, sich ebenfalls nach links zu bewegen. Den Kurs Schröders kann die SPD daher nicht mehr fortsetzen. Denn dann würde sie zerbrechen, weil sofort ein Teil ihrer Bundestagsabgeordneten und auch viele Parteimitglieder in die Partei der Linken überlaufen würde. Immerhin war Oskar Lafontaine der ehemalige Parteivorsitzende der SPD. Ottmar Schreiner steht mit seinem Anhang schon abmarschbereit.
Die SPD ist fest entschlossen, den Mindestlohn zum nächsten Wahlkampfthema zu machen. Was wären die Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland, wenn er branchenübergreifend eingeführt würde?
Sinn: Ein Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro kostet uns 800000 Arbeitsplätze im Westen und 300000 im Osten, also 1,1 Millionen in der Summe. Das liegt daran, dass im Westen ein Neuntel der Arbeitnehmer derzeit für weniger als 7,50 Euro arbeitet und im Osten ein Viertel. In den meisten Fällen werden die Arbeitgeber dieser Geringverdiener zähneknirschend den höheren Lohn zahlen, aber nicht in allen. Viele Arbeitgeber werden diese Arbeitsverhältnisse beenden.
Statt den Aufschwung zu sichern, rückt immer mehr die Frage in den Mittelpunkt, wie er denn gerecht verteilt werden kann. Welchen Stellenwert hat für sie der Faktor der sozialen Gerechtigkeit und wie könnte die von Bundeskanzlerin Merkel versprochene Teilhabe der Bürger am Kuchen realisiert werden?
Sinn: Die Gerechtigkeit ist ein sehr wichtiges Ziel. Neben dem Ziel, wirtschaftliche Effizienz und Wohlstand zu erreichen, muss es bei der Gestaltung unseres Gemeinwesens ein starkes Gewicht haben. Die beiden Ziele beißen sich aber. Wenn man nur auf Gerechtigkeit bei der Verteilung schaut, dann sind die Leistungsanreize gering und der Kuchen, der zu verteilen ist, wird kleiner. Wenn man nur auf die Maximierung des Kuchens blickt und die Marktwirtschaft so laufen lässt, wie sie will, dann gibt es in der Tat nur noch wenig Gerechtigkeit. Also muss man einen Kompromiss zwischen diesen beiden divergierenden Zielen finden. Ich glaube jedoch, dass die Möglichkeit besteht, gegenüber der heutigen Situation in Deutschland die Kompromisse noch deutlich zu verbessern, sodass sowohl mehr Gerechtigkeit als auch mehr Effizienz erreicht wird. Dazu muss man den Sozialstaat anders konstruieren und mehr das Mitmachen statt des Wegbleibens honorieren. Damit sind wir beim Thema einer aktivierenden Sozialpolitik.
Herr Professor, wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf bei der Bahn- Tarifauseinandersetzung? Herrscht hier eigentlich noch Waffengleichheit und was bedeutet das Vorsprechen von einzelnen Spartengewerkschaften künftig für die gesamte Tariflandschaft?
Sinn: Wenn das Schule macht, kriegen wir englische Verhältnisse. In Großbritannien hatte es ja nach dem Krieg ein Siechtum gegeben, weil diese berufsstandsspezifischen Gewerkschaften – oder Spartengewerkschaften wie Sie sie nennen – überhand genommen hatten. Diese Gewerkschaften neigen dazu, in der Summe viel höhere und agressivere Lohnforderungen zu stellen, als Einheitsgewerkschaften es tun, mit der Folge, dass die Beschäftigung im Übermaß schrumpft und es eben den Arbeitnehmern schlechter geht, als wenn die Einheitsgewerkschaft verhandelt.
Herr Professor, was nützt es den Bürgern, wenn deren Abgaben nächstes Jahr zwar ein wenig gesenkt werden, sie aber bei den Öl, Gas- und Strompreisen um ein Vielfaches zur Kasse gebeten werden? Wird durch die explodierenden Energie- und anziehenden Lebensmittelpreise aus der gefühlten Inflation alsbald eine reale?
Sinn: Nein, das glaube ich nicht. Wir werden mit knapp über zwei Prozent Inflation wieder dabei sein. Man muss sehen, dass – bedingt durch die Mehrwertsteuererhöhung – die Inflation dieses Jahres im Verhältnis zum vorigen deutlich über zwei Prozent liegt. Aber diesen Effekt gibt es ja nächstes Jahr nicht noch einmal.
Wie hoch ist denn der Anteil der Spekulanten am Ölpreis, der sich mittlerweile der Hundert-Dollar- Marke nähert? Wie realistisch ist in diesem Zusammenhang die Forderung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, auch diese endlich einer Kontrolle zu unterziehen, wie es bei den Banken und beim Wertpapierhandel gehandhabt wird?
Sinn: Also man muss zwei Typen von Spekulationen unterscheiden. Einmal die Spekulanten im engeren Sinne, die Bestände aufkaufen, sie lagern und zu einem anderen Zeitpunkt wieder verkaufen. Und zum anderen die Spekulation durch die Anbieter selber, die in der Erwartung zukünftiger, höherer Preise heute das Angebot verknappen. Das Letztere ist natürlich das A und O des Ölmarktes. Davon wird der Preis bestimmt. Die Spekulation im ersteren Sinne ist hingegen unbedeutend, denn die Lagermöglichkeiten sind begrenzt und ohne Mengen aus dem Markt herauszunehmen, kann man den Preis nicht hochtreiben. Der Derivatehandel und das ganze Hin und Her, das man auf den Märkten beobachtet, hat keinen Einfluss auf den Preis, solange nicht Mengen wirklich aus dem Markt verschwinden. Aber die Mengen müssten dann ja physisch irgendwo eingelagert werden. Und das ist angesichts der gigantischen Mengen, die jedes Jahr verkauft werden, nur ein kleiner Prozentsatz. Entscheidend ist daher, was die Ölscheichs unternehmen.
Auch der Kurs des Euro gegenüber dem US-Dollar erklimmt neue Rekordhöhen. Damit er nicht noch weiter steigt, hat der Wirtschaftsweise Peter Bofinger jüngst eine Intervention der Europäischen Zentralbank (EZB) am Devisenmarkt gefordert. Stimmen Sie dem zu?
Sinn: Ich habe Verständnis für diese Position. Aber man darf nicht nur die eine Seite des Problems sehen. Wenn wir intervenieren, helfen wir zwar zunächst unserem Export, aber wir erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Amerika in eine Rezession schlittert, was uns auch nicht recht sein kann, weil dann der Export ebenfalls beschädigt wird. Im Übrigen würde eine Intervention den Aufkauf gigantischer Dollarbestände implizieren. Wenn die US-Notenbank nicht mitmacht und die von uns gekauften Dollars nachdruckt, wird es uns kaum gelingen, die gewünschten Kurseffekte herbeizuführen. Das will alles sehr gut überlegt sein. Ich würde sagen, das sollte mal EZB-Chef Jean Claude Trichet entscheiden.
Hat die US-Regierung nicht ohnehin ein großes Interesse an einem schwachen Dollar, schon um ihre Exporte anzukurbeln?
Sinn: Ja, und das müssen wir auch zulassen, denn die Amerikaner haben derzeit ein gigantisches Leistungsbilanzdefizit, das heißt sie exportieren viel zu wenig im Verhältnis zu ihren Importen. Dieses Defizit beläuft sich mittlerweile auf über 800 Milliarden Dollar. Das muss geändert werden. Dieses Ungleichgewicht in der Welt kann nicht bestehen bleiben. Es gibt zwei Korrekturmechanismen dafür. Das eine ist die Abwertung des Dollar, das andere ist eine amerikanische Rezession. Und es ist ja doch wohl klar, was man vorziehen sollte.
Um mehr Transparenz und Wettbewerb auf dem Strommarkt zu erreichen, wird die Forderung nach einer Trennung von Produktion und dem Netz bei den Konzernen immer lauter. Was halten Sie davon?
Sinn: Das kann man diskutieren. Nur darf man dabei auch nicht blauäugig sein. Diese Forderung kommt von der EU. Dahinter stehen andere westeuropäische Länder, die niedrigere Durchleitungsgebühren für das deutsche Netz wollen. Das deutsche Gasnetz ist das einzige Faustpfand, das wir im Energiepoker haben. Das gesamte russische Gas, das nach Westeuropa verkauft wird, fließt durch unser Territorium. Spanien, England, die Benelux-Länder und nicht zuletzt Frankreich wollen, dass die deutschen Energiekonzerne ihre Kontrolle über das Netz verlieren. Sie wollen niedrigere Durchleitungsgebühren und im Krisenfall mehr Einfluss auf die Gasleitungen. Ich habe zwar ein gewisses Verständnis dafür, aber man muss auch hier den Interessenskonflikt sehen. Fakt ist: Unser Gasnetz muss in deutscher Hand bleiben. Es muss als Faustpfand für schwierige zukünftige Zeiten erhalten bleiben. Im Gegensatz zu anderen Ländern haben wir keine Ölgesellschaften. Wenn es hart auf hart kommt und irgendwelche Konflikte oder gar Krisen ausbrechen, was auf dem Energiemarkt jederzeit möglich ist, dann ist es gut, wenn wir auch eine starke Hand auf dem deutschen Netz haben.
Teilen Sie in diesem Zusammenhang die Sorge vieler, dass Deutschland bei den Energielieferungen zu stark von Russland abhängig werden könnte?
Sinn: Nun ja, diese Sorgen muss man immer haben. Aber seien wir doch froh, dass uns die Russen das Gas zur Verfügung stellen. Im Gegensatz zu den Amerikanern sind wird ja auch strategisch in einer sehr günstigen Position, weil Sibirien, Kasachstan und all die anderen russischen Gasfelder von uns aus durch Pipelines direkt erreichbar sind. Natürlich sollten wir nicht ausschließlich vom russsischen Gas abhängig sein, aber das sind wir ja nicht. Das Öl kommt u.a. aus den arabischen Staaten, und die Kohle kommt zum Beispiel aus Amerika. Wichtig ist, dass man viele verschiedene Energiequellen hat, sodass man im Krisenfalle abgesichert ist, wenn die eine oder andere einmal ausfallen sollte.
Sind im Zuge der fortschreitenden Globalisierung nationale Schutzwälle das geeignete Mittel, um unliebsame Investoren aus dem Ausland zu verhindern, wie es die Große Koalition zurzeit anstrebt?
Sinn: Ja, das halte ich für richtig. Es macht schließlich keinen Sinn, wenn wir in Deutschland die ehemaligen Staatsbetriebe privatisieren, sodass ausländische Staatskonzerne sie dann wieder kaufen können, also dass wir sie unter ausländischer Regie dann wieder verstaatlichen. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden. Ich habe nichts gegen private ausländische Investoren, wenn sie Staatsbesitz erwerben wollen, aber man muss schon darauf achten, dass die hiesige Industrie nicht von ausländischen Staatsbetrieben unterwandert wird.
Woher kommt es, dass so viele Menschen – nicht nur in Deutschland – Angst vor der Globalisierung haben und wie kann man ihnen diese Angst nehmen?
Sinn: Der Grund liegt darin, dass viele Menschen heute zu den Verlierern der Globalisierung gehören. Daher ist diese Angst durchaus berechtigt. Während die deutschen Arbeitnehmer im 19. Jahrhundert und auch in der Nachkriegszeit die großen Globalisierungsgewinner waren, hat sich heute das Blatt gewendet. Heute sind sie nicht die Niedrig-, sondern die Hochlöhner und werden von Niedriglöhnern bedrängt. Und das bedeutet, dass es eben viele Verlierer gibt. Wer nur seine einfache Arbeit anzubieten hat und ungelernt ist, der gehört sicher zu den Verlierern der Globalisierung. Ich verstehe durchaus, dass er dagegen ist. Nur dürfen wir dem nicht nachgeben, weil der Handel in Zeiten der Globalisierung für die Volkswirtschaft riesige Vorteile bringt. Wir müssen daher darauf schauen, dass wir Wege finden, die Verlierer zu kompensieren, sodass sie eben nicht in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden, wie das bei einer Politik der Mindestlohnsetzung der Fall wäre. Das geht nur über ein System der Lohnzuschüsse wie es unter dem Namen „aktivierende Sozialhilfe“ oder nach den Modellen des Sachverständigenrates vorgeschlagen wurde.
Die Fragen stellte Dr. Hans M.Götzl