Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn über seine Kritik am Wirtschaftsstandort Deutschland, die Kehrseite des Exportbooms und die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Globalisierungsgewinner und -verlierer
SPIEGEL: Herr Sinn, Sie haben vor einigen Jahren gewarnt, Deutschland sei der kranke Mann Europas, sein Abstieg unausweichlich. Doch die deutsche Wirtschaft steht trotz Ölpreisschock und Dollar-Schwäche gut da. Haben Sie sich geirrt?
Sinn: Ich habe gesagt, Deutschland sei abgestiegen, und Reformen angemahnt, die nötig sind, um das zu ändern. Wesentliche Reformen haben stattgefunden, und die Ergebnisse auf dem Arbeitsmarkt sind phantastisch. Aber vergessen wir nicht: Westdeutschland lag im Jahr 1970 beim Sozialprodukt pro Kopf auf Platz zwei in der Rangliste der europäischen Länder, und heute liegt es auf Platz neun.
SPIEGEL: Dennoch wird im Ausland die deutsche Wirtschaft voller Respekt betrachtet. In Frankreich gilt sie geradezu als Vorbild.
Sinn: Frankreich hat große Probleme …
SPIEGEL: … wie Großbritannien und Spanien auch, von den USA ganz zu schweigen. Ist der Standort also doch nicht so schlecht, wie wir dachten?
Sinn: Der Standort hat sich durch die Schröderschen Reformen verbessert. Wir haben wegen der Agenda 2010 und der Senkung des deutschen Mindestlohns, der damit einherging, 1,1 Millionen Jobs in Westdeutschland mehr, als es eine Wiederholung früherer Konjunkturmuster hätte erwarten lassen.
SPIEGEL: Welcher Mindestlohn? Bisher gibt es keinen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland.
Sinn: Lohnersatzleistungen, von der Sozialhilfe über die Arbeitslosenhilfe bis zur Frührente, wirken wie ein Mindestlohn. Die Gelder fließen, wenn man nicht arbeitet, und sie versiegen, wenn man es tut. Deshalb braucht man mindestens so viel Lohn, wie der Staat fürs Nichtstun zahlt. Die Leistungen wurden seit Willy Brandt immer mehr ausgebaut, mit dramatischen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Von Boom zu Boom ging die westdeutsche Sockelarbeitslosigkeit um 800 000 hoch. Diese Gesetzmäßigkeit wurde mit der Agenda 2010 durchbrochen.
SPIEGEL: Wie das?
Sinn: Die Agenda hat den deutschen Mindestlohn durch zwei Maßnahmen verringert: Erstens wurde die Arbeitslosenhilfe gestrichen und zweitens ein Lohnzuschusssystem eingeführt, die Aufstockung bei Hartz IV. Beides hat die Lohnansprüche gesenkt. Je mehr Zuschuss man vom Staat kriegt, desto kleiner kann der Lohn sein. Als Folge dieser Reformen entstand ein Niedriglohnsektor. Und deshalb ist erstmals seit 1970 vom einen zum anderen Aufschwung die westdeutsche Sockelarbeitslosigkeit nicht um 800 000 Personen gestiegen, sondern um 300 000 gesunken. Das macht in der Summe eine Verbesserung von 1,1 Millionen Stellen wegen der Agenda 2010. Diese Trendumkehr ist ein Riesenerfolg.
SPIEGEL: Möglicherweise hat der Erfolg aber auch andere Ursachen.
Sinn: Die Statistik belegt meine These. So haben zum Beispiel besonders die Langzeitarbeitslosen und über 50-Jährigen zusätzliche Jobs bekommen, also genau die Personen, deren Lohnansprüche gesenkt wurden. Der Zusammenhang ist eindeutig.
SPIEGEL: Im Unterschied zu früheren Wachstumsphasen ist die Industrie doppelt so schnell gewachsen. Auch das hat doch zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit geführt.
Sinn: Sie wuchs genauso schnell wie beim letzten Aufschwung 1999/2000, und der Export wuchs sogar um ein Drittel langsamer als damals. Der hohe Abbau der Arbeitslosigkeit kann hierdurch nicht erklärt werden.
SPIEGEL: Wie bitte? Der Maschinenbau, eine der wichtigsten Branchen, erlebt einen Boom wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Sinn: Dort sind nur drei Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt. Nein, das bloße Wachstum war es nicht. Die niedrigeren Löhne haben vielmehr eine davon unabhängige Jobmaschine in Gang gesetzt. Vor der Agenda 2010 war die Entwicklung mehr als trist. Im verarbeitenden Gewerbe hatten wir seit den siebziger Jahren einen Rückgang der Beschäftigung, der nur in Boomzeiten kurzfristig unterbrochen wurde. Rechnerisch haben wir seit der deutschen Vereinigung sämtliche Industriearbeitsplätze verloren, die durch die neuen Bundesländer dazukamen, und noch einmal 1,2 Millionen im Westen dazu.
SPIEGEL: Ist Deutschland auf dem Weg in die Deindustrialisierung?
Sinn: Noch haben wir siebeneinhalb Millionen Industriebeschäftigte. Aber der Arbeitsplatzverlust war gewaltig. Und dennoch wurde die Wertschöpfung in der Industrie seit Mitte der neunziger Jahre gehalten, weil die deutsche Industrie die Basarstrategie gewählt hat …
SPIEGEL: … womit Sie meinen, dass die Industrie immer mehr Teile in Billigländern fertigen lässt. Aber Basarökonomie klingt nach billigem Ramsch, tatsächlich produziert die deutsche Industrie vor allem hochwertige Produkte.
Sinn: Einverstanden. Sprechen wir davon, dass wir den Werkzeugladen der Welt in Deutschland haben. Die Produkte, die dort hergestellt werden, sind international heißbegehrt und von hoher Qualität. Die deutsche Industrie war wegen der Basarstrategie auch schon vor der Agenda 2010 außerordentlich wettbewerbsfähig, …
SPIEGEL: … aber?
Sinn: Immer mehr Jobs gingen verloren. Die Betriebe blieben wettbewerbsfähig, indem sie sich von einem Teil ihrer teuren Arbeitnehmerschaft trennten und die Vorproduktion auslagerten. Noch heute haben wir in Deutschland die dritthöchsten industriellen Lohnkosten pro Stunde auf der Welt. Die hohen Lohnkosten haben Jobs in den arbeitsintensiven Binnensektoren der Wirtschaft vernichtet und die Kräfte des Landes in die Exportindustrien getrieben, die kapital- und wissensintensiv arbeiten und deshalb nur wenige angelernte Kräfte brauchen.
SPIEGEL: Laut Statistischem Bundesamt haben deutsche Firmen zwischen 2001 und 2006 nur 188 000 Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Ist die Angst vorm Ausbluten nicht maßlos übertrieben?
Sinn: Das war eine freiwillige Befragung, mehr nicht. Nach den Pflichtmeldungen bei der Bundesbank unterhalten deutsche Unternehmen im Ausland 5,2 Millionen Jobs, ausländische im Inland 2,2 Millionen. Netto wurden also 3 Millionen Stellen im Ausland geschaffen. Im Übrigen darf man nicht nur auf die Direktinvestitionen schauen. Überwiegend geschieht die Verlagerung ja indirekt auf dem Wege über den Finanzkapitalmarkt. Im vergangenen Jahr hat Deutschland 265 Milliarden Euro gespart. Davon wurde netto ein Kapitalexport von 166 Milliarden Euro finanziert; Direkt- und Finanzkapitalströme zusammen genommen. Für den Aufbau des inländischen Kapitalstocks, also die Nettoinvestitionen in Deutschland, wurden demgegenüber nur 99 Milliarden Euro verwendet. Wir sind bei der inländischen Nettoinvestitionsquote mit nur vier Prozent neben Japan das Schlusslicht unter den OECD-Ländern.
SPIEGEL: Uns ging es um die exportierten Arbeitsplätze.
Sinn: Mir auch. Auch mit dem exportierten Finanzkapital wurden im Ausland Arbeitsplätze geschaffen.
SPIEGEL: Die Direktinvestitionen …
Sinn: … sind nur der kleinere Teil des Geschehens.
SPIEGEL: Warum das?
Sinn: Kredite, die deutsche Banken an das Ausland geben, sind damit genauso wenig erfasst wie die Verlagerung von Jobs auf ausländische Zulieferer.
SPIEGEL: Wo ging das Geld hin?
Sinn: Unter anderem nach Osteuropa und Amerika.
SPIEGEL: Amerika ist bekanntlich kein so toller Industriestandort.
Sinn: Ein Niedriglohnstandort ist es allemal. Die amerikanischen Lohnkosten je Stunde sind um ein Drittel niedriger als die deutschen.
SPIEGEL: Was den Niedergang der amerikanischen Industrie aber nicht aufhalten konnte. Wenn es nach den Lohnkosten ginge, müsste die amerikanische Autoindustrie viel wettbewerbsfähiger als die deutsche sein.
Sinn: Ich sage ja nicht, dass das monokausal ist. Die deutsche Ingenieurskunst ist immer noch hoch entwickelt, und wir haben die gutausgebildeten Facharbeiter. Mann kann so viel teurer sein, wie man besser ist, aber nicht noch teurer. Deutschland ist nach wie vor ein Land, das seine Ressourcen in die Welt exportiert und dort investiert. Leider auch in die USA, wo dieses Geld nicht sinnvoll aufgehoben ist. Unsere Landesbanken haben die amerikanischen Subprime-Papiere mit dem Geld gekauft, das die deutschen Sparer zu ihrer Sparkasse getragen haben.
SPIEGEL: Das Beispiel zeigt aber auch, dass das Geld heute eher in fragwürdige Finanzanlagen fließt, weil dort - wenn es gutgeht - sehr viel höhere Renditen zu erzielen sind als in der Industrie.
Sinn: Durch Spekulation kann viel Geld verdient werden, und das ist für viele verlockend - sonst wären ja nicht so viele reingefallen. Im Jahr 2001, als die Blase an der Börse platzte, hingen die Privatleute drin, und heute hängen die Banken drin. Der Bundespräsident hat darauf hingewiesen, dass das Geschehen auf den Finanzmärkten außer Kontrolle geraten ist und der Regulierung bedarf. Da kann ich ihm nur beipflichten.
SPIEGEL: Zurück zu den Direktinvestitionen: Die deutschen Investitionen in Osteuropa sind doch ein Segen …
Sinn: … für die Osteuropäer …
SPIEGEL: … und für die deutsche Industrie. Die wäre ohne die billigen Zulieferungen aus den Niedriglohnländern gar nicht in der Lage, Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten.
Sinn: In der Tat. Aber wenn die Firmen wettbewerbsfähig sind, heißt das nicht notwendigerweise, dass es auch ihre Arbeiter sind. Die einfachen Arbeiter haben durch die Asiaten und neuerdings auch die Osteuropäer eine bedrohliche Niedriglohnkonkurrenz bekommen. Diese Konkurrenz spaltet unsere Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Ein Dritteljahrhundert Mindestlohnstrategie konnte das nicht verhindern. Kanzler Gerhard Schröder hat richtig reagiert, indem er den Weg in einen Niedriglohnsektor frei machte. Das war eine Erfolgsstrategie, weil sie Jobs gebracht hat. Besser schlechte Jobs als keine Jobs. Die Armutsgefährdung in Deutschland ist dadurch wieder zurückgegangen, und die statistische Mittelschicht wurde gestärkt.
SPIEGEL: Im Armutsbericht der Bundesregierung klingt das anders.
Sinn: Der Bericht beruht auf völlig veralteten Zahlen aus dem Jahr 2005. Das war das Jahr der höchsten Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der stärkste Grund für die Armutsgefährdung ist die Arbeitslosigkeit, und die ist seitdem dramatisch zurückgegangen.
SPIEGEL: Hatte die deutsche Wirtschaft überhaupt eine Alternative zu dem, was Sie Basarstrategie nennen? Wenn sie sich nicht auf die neue Konkurrenzsituation eingestellt hätte, wären doch alle zu Verlierern der Globalisierung geworden.
Sinn: Völlig richtig. Die Strategie hat den Firmen geholfen zu überleben.
SPIEGEL: Sie haben doch immer gegeißelt, dass sich die deutsche Wirtschaft zur Basarökonomie entwickelt.
Sinn: Der Sachverhalt ist komplexer. Betriebswirtschaftlich ist es ganz klar eine Erfolgsstrategie. Die Unternehmen, die eine Mischkalkulation anstellen, sind erfolgreich, Porsche etwa ist der Auslagerer par excellence. Volkswirtschaftlich ist der Erfolg fraglich, denn hier geht es nicht um das Glück der Unternehmen, sondern um das Glück der Menschen. Auch volkswirtschaftlich war die Basarstrategie besser, als sich von der Konkurrenz verdrängen zu lassen und alle Arbeitsplätze zu verlieren, keine Frage. Noch besser wäre es gewesen, wir hätten Rahmenbedingungen gehabt, bei denen nicht alle Kräfte des Landes auf den Export kapital- und wissensintensiver Güter konzentriert worden wären. Mit einer moderaten Lohnpolitik wäre nicht alles kaputtgegangen, was arbeitsintensiv ist. Wir hätten zwar nicht so viel Wertschöpfung im Export gewonnen, dafür aber mehr Wertschöpfung und Beschäftigung in den Binnensektoren.
SPIEGEL: Die Lohnpolitik in den vergangenen Jahren war doch moderat.
Sinn: Seit dem Jahr 2000 war sie moderat, und das war ja auch erfolgreich. Davor war sie 30 Jahre übermäßig.
SPIEGEL: Ist es denn realistisch, die Strategie der Mäßigung fortzusetzen? Schon jetzt werden die Einkommensunterschiede in Deutschland immer größer.
Sinn: Das ist in der Tat ein Problem für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es hat aber keinen Sinn, sich den Kräften der Globalisierung entgegenzustemmen und von politischer Seite die Lohnstruktur zu verändern. Das geht schief, weil es Massenarbeitslosigkeit erzeugt. Man macht alles noch schlimmer.
SPIEGEL: Was kann die Politik tun?
Sinn: Der Staat muss die Agenda 2010 weiterentwickeln und Billigjobs noch stärker bezuschussen. Das heißt, wir sollten uns nicht gegen die Kräfte der Globalisierung stemmen, sondern zulassen, dass die Lohnstrukturen sich im Einklang mit den Erfordernissen der Weltwirtschaft entwickeln. Wenn der eigene niedrige Lohn aufgestockt wird, kann ein sozial akzeptables Gesamteinkommen entstehen, ohne dass man seine Wettbewerbsfähigkeit verliert. Das ist der Weg der Agenda 2010. Sie hat uns 1,25 Millionen Aufstocker in Deutschland gebracht und zumindest die statistische Armutsgefährdung wirksam reduziert.
SPIEGEL: Dass der Mensch allein von seiner Hände Arbeit leben kann, wird damit zur Utopie?
Sinn: Leider ist das in vielen Fällen so. Ansonsten müsste man die Firmen zwingen, auch solche Menschen zu beschäftigen, die ihnen weniger bringen, als sie kosten. Das Großexperiment dazu haben wir auf deutschem Boden bereits gemacht.
SPIEGEL: Herr Sinn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Korrekte Abbildung: Die Darstellung der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland im angegebenen Diagramm des Spiegel deckt sich nicht mit der von mir im Interview getroffenen Aussage, dass die Sockelarbeitslosigkeit in Westdeutschland seit Willy Brandt von Boom zu Boom dreimal hintereinander um 800 Tausend Personen stieg, und vom letzten bis zu diesem Boom um 300 Tausend fiel. Das liegt daran, dass in der Spiegel-Graphik unter dem Begriff Westdeutschland drei unterschiedliche Gebietsstände erfasst werden. So ist die Zeitreihe für den Zeitraum von 1970 bis 1990 auf das frühere Bundesgebiet inklusive Westberlin bezogen (vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslose nach Ländern, Jahreszahlen ), für den Zeitraum von 1991 bis einschließlich 2007 auf die alten Bundesländer ohne Berlin (vgl. Bundesagentur für Arbeit, Arbeitslose nach Ländern, Jahreszahlen ) und für den Prognosezeitraum 2008/2009 auf die alten Bundesländer zuzüglich Ost- und Westberlin (vgl. Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2008 ). Das ifo Institut berechnet die Zeitreihe der Arbeitslosigkeit für Westdeutschland über den gesamten Zeitraum auf einem einheitlichen Gebietsstand, nämlich „Früheres Bundesgebiet“, welches Westberlin umschließt. Hier betrug die Arbeitslosenzahl in den im „Spiegel“-Diagramm beschriebenen Tiefpunkten: 1979: 0,88 Millionen (das entspricht den im Diagramm genannten 0,9 Millionen), 1991: 1,69 Millionen (statt 1,6 Millionen), 2001: 2,49 Millionen (statt 2,3 Millionen) sowie in den Jahren 2008/2009: 2,20 Millionen bzw. 1,99 Millionen (statt 2,3 bzw. 2,1 Millionen). Nur mit der Betrachtung eines einheitlich abgegrenzten Gebietes lässt sich die langjährige Entwicklung zutreffend darstellen und analysieren. Nur dann wird deutlich, dass die Agenda 2010 die Arbeitslosenzahl um 1,1 Millionen unter jenes Niveau gesenkt hat, das bei einer Wiederholung früherer Konjunkturmuster zu erwarten gewesen wäre. Hans-Werner Sinn |