Hans-Werner Sinn ist ein Ökonom mit Sendungsbewusstsein. Auch nach seinem Abschied vom Ifo-Institut gibt er keine Ruhe.
Eine dritte „große“ Koalition unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist wahrscheinlich, auch wenn SPD-Chef Martin Schulz noch seine Partei von den Ergebnissen der Sondierungen zwischen CDU, CSU und SPD überzeugen muss. Das sieht Hans-Werner Sinn mit Sorge. „Merkel könnte am Ende ihrer Amtszeit versucht sein, den großen Wurf zu wagen, um sich als große Europäerin feiern zu lassen, nachdem ihre Energiewende gescheitert ist“, sagte Sinn der F.A.S. Dem Wissenschaftler, der wie kein anderer Ökonom im Land wirtschaftspolitische Debatten anstößt und sie mit Hingabe führt, ist bange. Merkel könnte einen zu hohen Preis zahlen, befürchtet er, so wie Helmut Kohl am Ende seiner Kanzlerzeit mit der Euroeinführung.
Aller Voraussicht nach folge die nächste Bundesregierung, die vierte unter Merkels Führung, vielen Vorschlägen des französischen Staatspräsidenten (Euro-Finanzminister, Euro-Steuerbudget, EU-Arbeitslosenversicherung und anderes mehr). Dann schreitet der Umbau der Währungsunion in eine Transferunion voran. Im Gegenzug dürfte Emmanuel Macron wohl Merkels verfehlte Flüchtlingspolitik unterstützen, mit weiterer Zuwanderung und dem Zwang zur Verteilung der Migranten auf EU-Staaten. Die Fliehkräfte in der Gemeinschaft dürften wachsen, warnt Sinn, auch auf die Gefahr hin, mit seiner politisch unerwünschten Analyse abermals als Europafeind verunglimpft zu werden wie schon in der Euro-Krise wegen seiner Kritik an der "Euro-Rettung". Das ging unter die Haut, weil es eine Verleumdung war. Denn Sinn ist überzeugter Europäer. Deutschlands Mitgliedschaft in der EU ist ihm ein Herzensanliegen, aus Sorge um die Gemeinschaft weist er auf die Gefahr einer zunehmenden Spaltung Europas hin.
Was macht eigentlich der „klügste Professor Deutschlands“, wie ihn die „Bild“-Zeitung nannte, seit seinem Abschied vom Ifo-Institut vor knapp einem Jahr? Er fühlt sich sichtlich wohl im Kreis seiner Familie mit drei erwachsenen Kindern, ist aber auch öffentlich so umtriebig wie früher, hält etwa in Cambridge einen Vortrag über den Brexit oder schreibt an seinem nächsten Buch, einer Autobiographie mit dem vielsagenden Titel „Auf Suche nach der Wahrheit“, das Ende Februar erscheint.
Hans-Werner Sinn trägt sein wissenschaftliches Sendungsbewusstsein in klarer Sprache so lebendig vor, wie es sonst nur angelsächsische Ökonomen vermögen, wenn gewünscht, auch in 30 Sekunden. Er geht raus aus dem Elfenbeinturm, er sucht die öffentliche Debatte, stellt sich in Talkshows, schreibt Zeitungsartikel und Bestseller in Serie. Sein öffentliches Wirken deckt sich mit den wirtschaftspolitischen Höhepunkten des zurückliegenden Vierteljahrhunderts. Beginnen wir die Zeitreise mit der Wiedervereinigung. Sein 1991 erschienenes Buch „Kaltstart“ war der Startschuss für den „öffentlichen Sinn“. Es gibt wenig, was ihn zum Heulen bringen kann. „Der Fall der Mauer“, sagt er, war das einzige politische Ereignis in seinem Leben, zu dem ihm die Tränen kamen. Ausgerechnet ihm, der mit seiner Frau im gemeinsamen Buch schonungslos mit den wirtschaftspolitischen Fehlern der Wiedervereinigung abrechnete. „Kaltstart“ ist ein Kompendium ökonomischer Empfehlungen. „Natürlich wollten wir Einfluss nehmen“, sagt Sinn, der sich selbst schon mal als Sozialingenieur bezeichnet. Als Volkswirt habe man schließlich ein gewisses Sendungsbewusstsein. Die Sinns würden übrigens das Buch heute genauso wieder schreiben. Denn vieles hat sich bewahrheitet: die prognostizierte Deindustrialisierung, die Abwanderung, die drastische Entwertung des Volksvermögens, vor allem aber die Entwertung des Potentials der Menschen durch die hohen Löhne.
In der Wiedervereinigung stellte die Politik eine ökonomische Grundregel auf den Kopf. Will man eine Marktwirtschaft aufbauen, darf man in das freie Spiel der Preise und Löhne nicht eingreifen, weil es zentrale Lenkungsfunktionen erfüllt. Die Politik hatte jedoch zugelassen, dass westdeutsche Konkurrenten (Arbeitgeber und Gewerkschaften) in den Treuhandfirmen marktferne Lohnsteigerungen durchgesetzt haben. So schützte der Westen die eigenen Arbeitsplätze und verschreckte Investoren. „Das Primat der Politik gegenüber den ökonomischen Gesetzen führte bei der Vereinigungspolitik zu den absehbaren Problemen. Jetzt wollen viele die Dinge schönreden. Aber wo endet ein Land, das nicht einmal in der Lage ist, die Realität zu erkennen?“ Dieselbe Frage stellt Hans-Werner Sinn heute auch für Europa. „Sie sind dabei, die Fehler zu wiederholen, die Deutschland nach der Wiedervereinigung gemacht hat. Die Haltung, das werde sich schon einpendeln, nannte man Primat der Politik. Aber nichts pendelte sich ein - im Gegenteil.“
Natürlich mischte Sinn in der Rentendebatte der neunziger Jahre mit. Er lehnte zwar einen vollständigen Übergang vom Umlageverfahren zur kapitalgedeckten Vorsorge ab, doch die spätere Sparförderung für die kapitalgedeckte Riester-Rente ging auf seine Vorschläge zurück. Seit jeher setzt er sich dafür ein, das Großziehen von Kindern in der gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. In einem die Gemüter bewegenden Artikel in der F.A.Z. plädierte er im Juni 2005 für die Einführung einer Kinderrente, also für eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rentenleistung. Zur Begründung schrieb er: „Die drei klassischen Motive für Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssicherung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Bevölkerung und die Sicherung der Renten hinreichende Kinderzahl zu gewährleisten.“ In dieser Frage bleibt er sich treu, weshalb er die „Mütterrente“ der großen Koalition befürwortete.
In der Arbeits- und Sozialpolitik denkt Sinn pragmatisch, nicht dogmatisch und beweist früh Mut zu unbequemen Wahrheiten. „Es muss weniger staatliches Geld fürs Nichtstun geben und mehr fürs Mitmachen.“ Sein legendäres Buch von 2003, „Ist Deutschland noch zu retten?“, beginnt mit einer düsteren Zustandsbeschreibung der deutschen Wirtschaft. „Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch das Schlusslicht beim Wachstum.“ Als Medizin verabreichte Sinn der kränkelnden deutschen Wirtschaft einschneidende arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Reformen, mit den Kernelementen Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, flexiblen Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen und aktivierender Sozialhilfe im Niedriglohnbereich. Seine Ideen wurden von wissenschaftlichen Mitstreitern wie dem Sachverständigenrat aufgenommen, und sie bildeten sogar den Kern der Hartz-Reformen und der Agenda 2010. „Von solchen Erfolgen kann man als Ökonom nur träumen“, bescheinigt ihm Wolfgang Wiegard, der damalige Vorsitzende der Wirtschaftsweisen.
Gutgemeint ist nicht automatisch gut gemacht! Mit dieser, auf wenig Gegenliebe stoßenden Botschaft führte Sinn den Begriff des „Grünen Paradoxons“ in die Energie- und Klimadebatte ein. Sein Streiten mit beseelten Überzeugungstätern oder knallharten Lobbyisten war alles andere als vergnügungsteuerpflichtig. Sinns These, dass eine Einschränkung der Nachfrage nach fossiler Energie in Europa - obwohl gutgemeint - zu einer Verschärfung des Klimaproblems führen könnte, weil Öl-, Gas- und Kohlevorräte dann umso schneller in anderen Erdteilen ausgebeutet werden dürften, ist heute leider Realität. Wegen seines differenzierten Blicks auf die deutsche Energiewende verunglimpften ihn seine Kritiker als Leugner des Klimawandels. Dabei lässt er keinerlei Zweifel daran, dass er das Klimaproblem für eine der großen Herausforderungen der Menschheit hält. „Er hat die Dimension der Herausforderung erst so richtig bewusst gemacht“, sagt Christoph Schmidt, der heutige Vorsitzende des Sachverständigenrats. „Erfolgreiche Klimapolitik kann eben nicht im deutschen oder europäischen Alleingang erreicht werden, sondern nur in einer möglichst breiten internationalen Kooperation.“ Folgerichtig wirbt Hans-Werner Sinn seit Jahren für ein weltweites CO2-Handelssystem. Umso bedauerlicher ist es, dass bei der deutschen Energiewende nach dem Motto „Viel hilft viel“ der Emissionshandel durch partielle Förderung der Erneuerbaren konterkariert wird.
Im Buch „Kasino-Kapitalismus“ arbeitet Sinn die Weltfinanzkrise auf. Clemens Fuest, sein Nachfolger als Präsident des Ifo-Instituts, schildert hierzu einen Abend in einem Pariser Restaurant, zu dem die Banque de France internationale Ökonomen geladen hatte. Die beiden Diskutanten auf dem Podium erklärten den Ausbruch der Finanzkrise mit komplizierten Finanzprodukten wie CDS, CDOs et cetera. Die Bankenaufsicht habe diese Produkte nicht verstanden, die vielfältigen Verbindungen zwischen den Banken seien übersehen worden, so sei es zum Flächenbrand gekommen. Das klingt nach Unfall, Dummheit oder Leichtsinn. Sinn argumentierte auf dem Podium anders. Er erklärte die Krise als eine Folge der Kombination aus beschränkter Haftung und hohem Fremdkapitaleinsatz. Wenn ein Investor nicht wirklich haftet und die Verluste auf andere abwälzen kann, geht er exzessive Risiken ein. Das mag eine Weile gutgehen, aber irgendwann kommt es zu Verlusten, für die am Ende Steuerzahler einspringen müssen, die sich kaum wehren können. Was heute Allgemeingut ist, trug Sinn schon im Oktober 2008 vor. „Erstens zeigt dieser Umstand die Schnelligkeit, mit der er komplexe wirtschaftliche Ereignisse durchdringt und auf ihren Kern reduziert. Zweitens hält er es für unbefriedigend, wirtschaftliche Probleme damit zu erklären, die Menschen seien irrational und könnten Komplexität nicht bewältigen“, sagt Fuest.
„Ich war ein Dummkopf“, sagte Hans-Werner Sinn und fügte hinzu: „als junger Mann.“ Als junger Professor hatte er die Euroeinführung vehement unterstützt. Jetzt bereut er das. „Es war ein Riesenfehler, den Euro einzuführen.“ Ökonomisch, aber auch politisch. „Was ist aus dem angeblichen Friedensprojekt geworden? In Wahrheit habe ich noch nie so viel Hass in Europa erlebt wie jetzt.“ Trotz seiner scharfen Kritik wollte Sinn die Gemeinschaftswährung nicht krachend scheitern lassen. Mit dem Euro sei es wie mit einer zerrütteten Ehe, die Scheidungskosten seien zu hoch. Doch er warnt vor einem weiteren Durchwursteln. „Wir stolpern in einen neuen Sozialismus in Europa“, weil die Schulden sozialisiert würden.
Target, ein Akronym, das selbst in den Notenbanken kaum jemand kannte: Bis Hans-Werner Sinn eine Beobachtung in der Bundesbankbilanz von Helmut Schlesinger aufgriff, dem früheren Präsidenten der Deutschen Bundesbank. „Die politische Brisanz, die hinter diesen Zahlen steckte, wurde zunächst weder von der Bundesbank noch von der EZB erkannt“, sagt Jürgen Stark, der frühere Chefvolkswirt der EZB. „In der ihm eigenen Beharrlichkeit, Leidenschaft und Konsequenz kniete sich Sinn in die Target-Problematik hinein. Pointiert und zum Teil aggressiv argumentierend, mobilisierte er die Öffentlichkeit. Plötzlich wurde klar, dass die Haftungsrisiken aus Target für die europäischen, insbesondere die deutschen Steuerzahler dem Umfang der Rettungsschirme noch hinzugerechnet werden müssen.“ Stark schildert, wie von ihm als Mitglied des EZB-Direktoriums und zugleich Stellvertretender Vorsitzender des Ifo-Verwaltungsrats erwartet wurde, in der Target-Debatte beim Ifo zu intervenieren, weil das Institut ja staatlich finanziert sei und nicht gegen das politische Interesse des Geldgebers agieren dürfe. Das wirft nicht nur ein Schlaglicht auf unterschiedliche politische Kulturen, sondern gibt ein Gefühl dafür, welchen Widerständen und Anfeindungen Kritiker der Rettung um jeden Preis ausgesetzt sind. Stark sagt: „Zu Recht steht für Sinn die Target-Falle synonym für den Rettungswahn, der die Politik des Eurogebiets 2010/2011 befallen hatte. Man handelte in Panik. Risiken wurden mit der Übernahme von noch größeren Risiken nach dem Motto bekämpft: Was auch immer erforderlich, was auch immer es kostet. Die nationale Eigenverantwortung für die öffentlichen Haushalte ging in gegenseitiger Haftung auf.“
Auch zur Willkommenspolitik und dem Kontrollverlust an Deutschlands Grenzen fand Hans-Werner Sinn klare Worte: „Jedes Fabrikgelände ist durch Schranken und Zäune geschützt. Auch Staaten müssen sich vor einer unberechtigten Zuwanderung schützen.“ In einem seiner Gastbeiträge für die F.A.Z. stellt er anderslautende Studien richtig. Bei Berücksichtigung sämtlicher Aktivitäten der Migranten ergibt sich ökonomisch eine Negativbilanz für den deutschen Staat. Nach Abwägen der ökonomischen Vor- und Nachteile kommt er zum Schluss: „So wie die Zuwanderung läuft, läuft sie falsch.“ Deshalb griffen ihn Teile der Medien und der Öffentlichkeit auf diffamierende Weise an. Dabei ist er gar nicht gegen Migration. Aber er sieht auch die unerwünschten Begleiterscheinungen und warnt vor ungesteuerter Zuwanderung, weil Länder wie Deutschland, die über das Staatsbudget stark umverteilen, tendenziell mehr geringqualifizierte Migranten anziehen könnten, als ökonomisch ratsam wäre. Sinn, dessen Argumente auf der Klubgüter-Theorie basieren, schlägt deshalb vor, Migranten erst einmal nicht den vollen Zugang zu staatlichen Transfers zu geben, um Zuwanderung in Arbeitslosigkeit oder den Sozialtransfers zu vermeiden.
Wie Sinn über seine eigene Zunft denkt, verrät viel über ihn selbst: „Ich bin als politischer Ökonom angetreten, die Welt zu verbessern“, sagt er. Die älteren Ökonomen müssten sich um die Politik kümmern, findet er. Auch das sei Forschung, aber eben andere. „In der Jugend forscht man theoretisch-mathematisch, im Laufe der Zeit kommt man dann mehr an die politischen Themen heran“, sagt er. „Politische Fragen sind komplizierter. Es gibt da so viele institutionelle Fragen, dazu brauchen sie eine breite Erfahrung.“ Diese in die öffentliche Diskussion einzubringen, sieht er als seine Pflicht. Ökonomen würden nicht nur für selbstreferentielle Forschung bezahlt. „Der Betriebswirt dient dem Betrieb“, sagt Sinn, „der Volkswirt dient dem Volk.“
Der Artikel basiert auf einer Laudatio auf Hans-Werner Sinn aus Anlass der Verleihung Friedrich-List-Medaille.
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