Harte Kritik an der laschen Regulierung kommt vom deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn. Alternativen zur Marktwirtschaft sieht er freilich keine, wie er auf Fragen von Andreas Schnauder erklärte.
Der Ruf nach mehr Regulierung, oder gar einer völligen Neuausrichtung des Wirtschaftschaftssystems erschallt unüberhörbar. der Standard nimmt den internationalen Reformeifer zum Anlass, um den Kapitalismus und damit das wirtschaftliche Handeln des Menschen im Rahmen einer Interviewserie aus verschiedensten Perspektiven zu beleuchten und Alternativen auszuloten.
Standard: Derzeit ist Karl Marx stärker gefragt als Adam Smith. Ist der Kapitalismus angesichts der von den Finanzmärkten rührenden Krise am Ende?
Sinn: Die Krise ist eine Krise des Systems der Bankenregulierung in den angelsächsischen Ländern. Die Vorstellung, dass man die Banken machen lassen kann, was sie möchten, hat sich als gefährlich und falsch erwiesen. Eine Marktwirtschaft ist keine Anarchie, in der jeder tun und lassen kann, was er möchte, sondern ein System mit festen Ordnungsregeln. Die hat man in den angelsächsischen Ländern im Übermaß erodieren lassen.
Standard: Aber sind diese Verwerfungen nicht systembedingt? Sie basieren ja auf den Grundpfeilern der Marktwirtschaft, der Maximierung des Eigeninteresses.
Sinn: Nein, denn die Leistung der Marktwirtschaft besteht ja gerade darin, dass sie ein System von Spielregeln und Restriktionen definiert, sodass das Eigeninteresse der Wirtschaftssubjekte sich produktiv entfaltet. Und dass es solch ein System braucht, ist klar. Eigennutz per se kann schädlich sein: Beispielsweise, wenn der eine dem anderen etwas wegnimmt. Wenn er aber selber mehr leistet und fleißiger arbeitet, so ist das etwas Produktives. Es kommt also sehr darauf an, dass man den Eigennutz richtig kanalisiert. Der Sozialismus hat die Triebkräfte des Eigennutzes falsch kanalisiert und hätte deshalb ein hohes Maß an Altruismus zum Funktionieren gebraucht. Da es diesen Altruismus nicht gab, ist der Sozialismus in der Geschichte kläglich gescheitert. Er brachte den Menschen Armut und Gewaltherrschaft. Er führt zwangsläufig zur Gewaltherrschaft, denn wenn der private Vorteil als Anreiz für wirtschaftliches Verhalten ausscheidet, muss der Polizeistaat an seine Stelle treten.
Standard: Die Sympathie-Welle für Marx kann aber nicht geleugnet werden. Vor allem seine Analysen werden derzeit gefeiert.
Sinn: Ich gehöre auch zu denen, die ihn dogmengeschichtlich in die Reihe der wichtigen Ökonomen einreihen. Er hat im Bereich der Makroökonomie und der Wachstumstheorie wichtige Erkenntnisse beigesteuert. Weniger gut waren seine mikroökonomischen Erkenntnisse über Anreizstrukturen. Marx hat allerdings keine Alternative zum marktwirtschaftlichen System entwickelt. Er blieb bei der Kritik und seiner Prophezeiung des Untergangs stehen. Das genau ist das Problem. Es gibt keine Alternative. Die Experimente der verschiedensten Art, die in der Geschichte durchgeführt wurden, sind allesamt fehlgeschlagen. Auch eine theoretisch überzeugende Alternative ist nicht entwickelt worden.
Standard: Aber ist es nicht zu oberflächlich, die Fehler eines von Gier geprägten Systems auf die Tollwut einiger Banker zu reduzieren?
Sinn: Mit dem Begriff Gier kann ich wenig anfangen. Die Gier ist ja nur ein anderer Begriff für Eigennutz, und den sehe ich überall, ob bei Reichen oder Armen. Der Grund für Ihre Sorge liegt darin, dass man Geschäftsmodelle gestattet hat, die mit zu wenig Eigenkapital arbeiten. Wenn die Aktionäre in den Genuss einer beschränkten Haftung kommen, die sie in Übermaß ausdehnen können, dadurch dass sie auf Eigenkapital in den Unternehmen weitgehend verzichten, dann haben wir a) die Gefährdung durch Konkurse und b) den Anreiz, sehr stark ins Risiko zu gehen.
Standard: Mit welchen Folgen?
Sinn: Dann verlangen die Aktionäre von ihren Managern riskante Geschäftsmodelle, die sie durch entsprechende Entlohnungssysteme anfeuern. Diese sind auf Kurzfristigkeit anstatt auf Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Devise ist: Lieber eine kurzfristige Chance für einen Riesengewinn als langfristig eine sichere mickrige Rendite, denn wenn man Pech hat, macht man den Laden eben dicht und fängt wieder von vorne an. Das ist eine fundamentale Gefahr, die aus der Haftungsbeschränkung resultiert. Schon Walter Eucken, der Begründer des Neo- oder Ordoliberalismus, hat die Bedeutung der Haftung für gesundes Wirtschaften betont.
Standard: Das klingt eher nach dem Bedarf einer regulatorischen als moralischen Erneuerung.
Sinn: Das menschliche Verhalten braucht Regelwerke, von Moralregeln bis hin zu gesetzlichen Regeln, um den Eigennutz richtig zu kanalisieren und produktiv einzusetzen. Wir haben im Bankensystem allerdings erkannt, dass die Moralregeln zu schwach sind und nicht ausreichend verhaltenslenkend gewirkt haben. Deshalb brauchen wir stärkere gesetzliche Regeln.
Standard: Haben Sie da keine Bedenken, dass die freien Marktkräfte behindert werden?
Sinn: Nein, keineswegs. Denken Sie an ein Fußballspiel. Der Neoliberale sagt, es geht nicht an, dass man einfach zwei Mannschaften ohne Regeln aufeinander loslässt, denn dann schlagen sie sich die Köpfe ein. Man braucht Spielregeln und einen Schiedsrichter. Der soll aber nicht selbst am Spiel teilnehmen und Tore für die unterlegene Mannschaft schließen. Wegen der Betonung der Regeln nennt man den Neoliberalismus in der Fachwissenschaft auch meistens eher Ordoliberalismus. Das Wort "Ordo" heißt Ordnung.
Standard: Die Marktwirtschaft muss sich den Vorwurf gefallen lassen, zur unfairen Vermögensverteilung beizutragen - die Einkommen klaffen immer weiter auseinander.
Sinn: So ist es. Die Marktwirtschaft ist effizient, aber nicht immer gerecht. Der Markt entlohnt nach Knappheit und ist auf dem sozialen Auge blind. Deshalb muss die Marktwirtschaft nach meiner Auffassung durch einen umverteilenden Staat ergänzt werden; insofern habe ich als Finanzwissenschaftler eine etwas andere Meinung als die Ordo- oder Neoliberalen. Aber das Problem ist, die Umverteilung darf nicht bis zur völligen Gleichmacherei führen, denn dann werden die Anreize der Marktwirtschaft zerstört. Es handelt sich dabei um einen Zielkonflikt zwischen der Größe des Kuchens und der Gleichheit seiner Verteilung, bei dem es sehr auf das richtige Maß der Dinge ankommt.
Standard: Sie sprechen sich immer wieder gegen Mindestlöhne aus: Führen Ihre Vorstellungen nicht zu einer Verstärkung der Ungleichgewichte?
Sinn: Wenn der Staat Mindestlöhne setzt, treibt er diejenigen, denen er helfen will, in die Arbeitslosigkeit, denn kein Unternehmer zahlt einem Arbeitnehmer mehr, als der für ihn zu leisten in der Lage ist.
Standard: Was ist die Alternative?
Sinn: Der Staat muss niedrige Löhne bezuschussen. Die Devise muss sein: Wer arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Diese Devise lässt sich nicht mit Mindestlöhnen realisieren, sondern nur mit Lohnzuschüssen, die in der Summe aus selbst verdientem Geld und staatlichem Zuschuss ein hinreichendes Gesamteinkommen sichern und zugleich Geschäftsmodelle im Niedriglohnsektor ermöglichen, die die benötigte Zahl an Stellen schaffen. Deutschland ist mit seinem Lohnzuschusssystem, das Kanzler Gerhard Schröder eingeführt hat, prächtig gefahren. Es gibt heute 1,3 Millionen Menschen, die Lohnzuschüsse im Rahmen des Hartz-IV-Systems bekommen. Das hat uns allein in Westdeutschland eine Million mehr Stellen gebracht, als durch den Konjunkturzyklus erklärbar ist, und die Zahl der Armutsgefährdeten dramatisch reduziert.
Standard: Wo sehen Sie den Kapitalismus in zehn Jahren?
Sinn: Er wird eine enorme Belastungsprobe durchlaufen. Durch den Fall des Eisernen Vorhanges sind 28 Prozent der Menschheit, die bisher sozialistisch regiert waren, in die Marktwirtschaft integriert worden. Dazu kommen die Inder - womit wir auf 45 Prozent der Menschheit kommen, die das Marktspiel so spielen wollen wie die 15 Prozent, die in den entwickelten OECD-Ländern leben. Dieser Bruch in der weltwirtschaftlichen Entwicklung schafft Chancen, aber auch gewaltige Risiken.
Standard: Welche?
Sinn: Es wird durch die kommunizierenden Röhren des Welthandels ein neuer Arbeitsmarkt gebildet, auf dem es tendenziell zu einer Verringerung der Lohnunterschiede kommt. In Deutschland und Österreich liegen die Löhne beim 30-Fachen der chinesischen Löhne. Es ist klar, dass das nicht so bleiben kann. Das nächste halbe Jahrhundert wird durch einen mühsamen Prozess der Findung eines neuen Gleichgewichts gekennzeichnet sein, der für die westlichen Länder mit empfindlichen Verteilungskonflikten und sozialen Spannungen verbunden sein wird, eine Phase, die ich mit der Frühphase der Industrialisierung von 1820 bis 1870 vergleichen möchte. Damals sind die deutschen Reallöhne auch nicht gestiegen. Kein Wunder, dass am Ende dieser Phase Karl Marx seine Bücher geschrieben hat und die sozialistische Bewegung entstanden ist. Uns steht Ähnliches bevor. Da es keine Alternative zur Marktwirtschaft gibt, wird es freilich auch jetzt zu keiner Reetablierung sozialistischer Systeme kommen.