Der verpatzte Kaltstart

Nach dem Mauerfall warnten Gerlinde und Hans-Werner Sinn vor ökonomischen Fehlern bei der Wiedervereinigung. Zwanzig Jahre später ziehen sie in der F.A.S. Bilanz: Viel Geld und Zeit wurden verschwendet.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 08.11.2009, Nr. 45, S. 36

Die politische Vereinigung Deutschlands ist gelungen, die wirtschaftliche nicht. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall liegt das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den Gebieten der ehemaligen DDR bei 69% des Niveaus der ehemaligen Bundesrepublik einschließlich Westberlins. Dieser Wert klingt besser, als er ist, denn er wird durch die Löhne der Staatsbediensteten, die mittlerweile so hoch sind wie im Westen, künstlich aufgebläht. Das privat erzeugte Bruttoinlandsprodukt je Einwohner liegt nur bei etwa 66% des Westniveaus. Ein erheblicher Teil der rechnerischen Konvergenz bei den Pro-Kopf-Größen wird im übrigen durch die Wachstumsschwäche Westdeutschlands und die wanderungsbedingte Verringerung der Zahl der Köpfe im Osten erklärt.

Müssten sich die neuen Bundesbürger allein ernähren, könnten sie wegen der immer noch niedrigeren Lebenshaltungskosten am Ende einen Lebensstandard von etwa 72% des westdeutschen oder 75% des gesamtdeutschen Durchschnitts erreichen. Bezüglich ihres Eigenbeitrags zum Lebensstandard liegen sie damit bereits deutlich hinter Slowenien, das nach den EU-Statistiken zu Kaufkraftvergleichen auf 82% des gesamtdeutschen Durchschnitts kommt, und nur knapp vor der Tschechischen Republik, die bei 71% liegt. Beide Länder werden den neuen Bundesländern im Hinblick auf die eigene Leistungskraft weit davonlaufen, wenn die Weltwirtschaftskrise überwunden ist. Auch Ungarn, die Slowakei und Polen sind schon auf der Überholspur.

Angesichts des Vorsprungs von mehr als 13 Jahren, den die neuen Bundesländer gegenüber anderen Ex-Comecon-Ländern bei der Integration in die EU hatten, ist das ein enttäuschendes Ergebnis. Mit der Vereinigung hatte Ostdeutschland zwar die Ostmärkte verloren, doch dafür fast 400 Millionen Westeuropäer als potenzielle Kunden gewonnen. Die Chance, sie als erste zu beliefern und an sich zu binden, wurde vertan.

Das Ergebnis ist insbesondere ernüchternd, wenn man die gigantischen Aufbauhilfen bedenkt, die den neuen Bundesgebieten zur Verfügung gestellt wurden. Nach vorsichtigen Schätzungen sind in jeweiligen Preisen gerechnet etwa 1,3 Billionen Euro netto aus öffentlichen Kassen in die neuen Länder geflossen. Das ist aufs Jahr gerechnet mehr als das Doppelte dessen, wofür Oskar Lafontaine seinerzeit kritisiert wurde.

Viel Geld floss in Sozialtransfers, einen aufgeblähten Staatssektor und in konsumtive Infrastruktur. Viele ostdeutschen Innenstädte wurden wieder Schmuckstücke. Doch der sich selbst tragende Aufschwung kam bis zum heutigen Tage nicht in Gang. Die neuen Bundesländer wuchsen in den letzten anderthalb Jahrzehnten nicht schneller als die alten; von Konvergenz keine Spur.

Nun muss man angesichts dieser Ergebnisse nicht Oskar Lafontaine Recht geben, der die Vereinigung in Raten durchführen wollte. Die Stabilität Mitteleuropas, die Solidarität mit den Verwandten und die Vereinigung der Nation waren den Preis, den der Westen gezahlt hat, allemal wert. Indes stellt sich schon die Frage, ob man es nicht hätte besser machen können.

Aus ökonomischer Sicht lag das Hauptproblem darin, dass eine ökonomische Grundregel auf den Kopf gestellt wurde. Will man eine Marktwirtschaft aufbauen, kann man zwar die Erstausstattungen weitgehend nach Belieben verteilen, doch in das freie Spiel der Preise und Löhne darf man nicht eingreifen, weil es zentrale Lenkungsaufgaben erfüllt. Die Politik hat den verfassungsrechtlich bindenden Auftrag des Einigungsvertrages (Art. 10,6), „Möglichkeiten vorzusehen“ den Bürgern der Ex-DDR „ein verbrieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen“ einzuräumen, klammheimlich unter den Tisch fallen lassen. Stattdessen hat sie zugelassen, dass die westdeutschen Konkurrenten der Treuhandfirmen marktferne Lohnsteigerungen durchgesetzt haben, die ursprünglich in nur fünf Jahren bis zum Westniveau führen sollten.

Hier lag der eigentliche Fehler. Bereits im Frühjahr 1991 wurden Lohnverhandlungen nach westdeutschem Tarifrecht durchgeführt, obwohl es damals noch gar keine privaten Unternehmer gab, die sich gegen die Entwertung ihres Kapitals durch Lohnsteigerungen hätten wehren können. Vor der Privatisierung fanden Stellvertreter-Lohnverhandlungen statt, bei denen auf beiden Seiten des Tisches die westdeutschen Konkurrenten der ostdeutschen Betriebe Platz genommen hatten. Deren Devise war, dass die Löhne schnellstmöglich auf das Westniveau gehievt werden sollten, um die eigenen Arbeitsplätze zu schützen. Falls die ausländischen Investoren, die schon in den Startlöchern saßen, kommen würden, um die Treuhandbetriebe mit ihrem Know-how und ihren Produkten flott zu machen, so sollten sie das gefälligst zu westdeutschen Löhnen probieren.

Die Investoren blieben dann lieber weg, die Treuhandbetriebe gingen unter, und am Ende waren dann tatsächlich keine Werte mehr da, die man hätte verteilen können. Sony, einer der wichtigen ausländischen Investoren der ersten Stunde hat sein imposantes Zentrum am Potsdamer Platz inzwischen voller Enttäuschung über den Gang der Dinge wieder verkauft.

Wir hatten im Jahr 1991 eine Alternative beschrieben. Danach sollten die Löhne nach der Eins-zu-Eins-Umstellung der Währung bis zum Abschluss der Privatisierung eingefroren werden, und die Treuhand-Betriebe sollten mit interessierten Investoren aus dem In- und Ausland Joint Ventures gründen, um so die vorhandenen Belegschaften möglichst rasch in eine moderne Arbeitswelt zu überführen und mit neuen Produkten und Maschinen auszustatten. Viele Treuhandbetriebe wären dann werthaltig gewesen, und man hätte der ostdeutschen Bevölkerung verbriefte Anteilsrechte zum Ausgleich für einen etwas langsameren Lohnanstieg zuteilen können. Doch als die Politik unsere Vorschläge zur Kenntnis nahm, hat sie nur noch mehr Gas gegeben. Die Joint Ventures entstanden stattdessen in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Die Treuhandanstalt hat damals das Unmögliche versucht und ist, wie immer, wenn man Unmögliches versucht, kläglich gescheitert. Drei Viertel der ihr anvertrauten Arbeitsplätze gingen verloren.

Die ostdeutschen Löhne sind wegen der Stellvertreter-Lohnverhandlungen in den Anfangsjahren deutlich schneller vorangeschritten als die Produktivität der neuen Länder (siehe Abbildung). Auch sind die Sozialeinkommen dank der Westransfers schneller als die Produktivität gestiegen. Sie haben heute das Westniveau weitgehend erreicht und bei den gesetzlichen Renten sogar überschritten. Über die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates auf dem Arbeitsmarkt hat dies die Löhne oberhalb des produktivitätsgerechten Niveaus zementiert. Es half daher auch nicht mehr viel, als sich die neu gegründeten ostdeutschen Firmen allmählich von den Fesseln der Tarifverträge befreiten. Die Stagnation war vorprogrammiert.

Es gibt in der Marktwirtschaft eine eiserne Regel: Erst muss die Wirtschaft florieren, dann können die Löhne steigen. Niedrige Löhne locken Investitionen an, die Wirtschaft wächst, es gibt mehr offene Stellen, und am Ende werden die Löhne durch die Konkurrenz der Arbeitgeber um die Arbeitskräfte nach oben gezogen. Die Wirtschaft kann den Lohn mitziehen, doch nie kann der Lohn die Wirtschaft mitziehen. Es ist wie bei der Drehtür am Flughafen, die stoppt, wenn man drängelt.

Slowenien und Tschechien haben ohne die Hilfen des großen Bruders mehr Wachstum gehabt. Auch Irland, einst das Armenhaus Europas, hat einen besseren Weg gewählt. Als die Arbeitskosten je Stunde in der ostdeutschen Industrie die irischen bereits im Jahr 1995 überholten, ohne dass annähernd vergleichbare Standortbedingungen hergestellt waren, war allen Investoren klar, dass man in den neuen Bundesländern nicht reich werden konnte. Das international mobile Kapital floss nach Irland statt in die neuen Bundesländer. Irland wuchs seitdem um 110%, und in den neuen Ländern begann ein Siechtum, mit gerade mal 17% Zuwachs in der gleichen Zeitspanne. Inzwischen hat Irland sogar Westdeutschland beim Sozialprodukt pro Kopf weit überholt, und die irischen Löhne liegen über den ostdeutschen, eben weil sie sich im Schlepptau mitziehen ließen, statt vorauseilen zu wollen.

Jeder kennt natürlich das Argument für die schnelle Lohnangleichung: die von der Politik immer wieder gegeißelte Wanderungsgefahr. Bei nachlaufenden Löhnen fürchtete man die Abwanderung vieler Leute in den Westen, und die galt es zu vermeiden. Aber warum eigentlich? Was ist so schlimm daran, wenn Menschen innerhalb eines Landes dorthin wandern, wo die Arbeitsplätze sind? Welchen Sinn machte es eigentlich, diese Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schicken und dort untätig auf neue Arbeitsplätze warten zu lassen? Auch unter günstigen Voraussetzungen musste man für die notwendigen Investitionen zur Wiederherstellung einer industriellen Basis mit mindestens einem Jahrzehnt rechnen. Es war ein Fehler, leistungsfähige, junge Menschen davon abzuhalten, zwischenzeitlich in den Westen zu gehen, um dort ein gutes Einkommen und nicht zuletzt Know-how zu erwerben. Im Endeffekt wären die neuen Länder ohne die Lohndrängelei schneller gewachsen als bei der gewählten Hochlohnstrategie, und die meisten Leute wären inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, die sich zu einem florierenden Wirtschaftsstandort entwickelt hätte.

Die Massenarbeitslosigkeit, die durch die Politik der vorauseilenden Lohnangleichung verursacht wurde, hat auf die Dauer vermutlich viel mehr Abwanderung und unterlassene Zuwanderung zur Folge gehabt, als es bei einer nachlaufenden Lohnangleichung der Fall gewesen wäre. Immerhin hat sich die Bevölkerung der ehemaligen DDR-Gebiete von 1991 bis 2008 um 1,5 Millionen Menschen oder 10% verringert, während die Bevölkerung der ehemaligen Bundesrepublik inklusive Westberlins um 3,7 Millionen zunahm. Aus der Lohndrängelei wurde ein Programm zum „Abbau Ost“ und, wenn überhaupt, zum „Aufbau West“, das Gegenteil, von dem, was man verkündet hatte.

Die misslungene Vereinigung zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaft hat allerdings auch Westdeutschland im internationalen Vergleich mit heruntergezogen. Bis zur deutschen Vereinigung wuchs Westdeutschland ordentlich und hatte beim Sozialprodukt pro Kopf eine Spitzenstellung in Europa, etwa gleichauf mit Dänemark. Unter günstigen Bedingungen hätte es sein Wachstum danach halten können, und Gesamtdeutschland hätte wegen der Konvergenz der neuen Länder an das westeuropäische Niveau eigentlich viel schneller als der Rest Europas wachsen müssen. Aber so kam es nicht. Seit 1995 schlichen beide Landesteile im Gleichschritt dahin und wechselten sich mit Italien bei der europäischen Schlusslichtposition ab. Es kam noch schlimmer, als wir es befürchtet hatten.

Nun erzwingt die wirtschaftliche Not einen neuen Realismus in Deutschland. Die Nettotransfers in die neuen Länder fallen seit ein paar Jahren, die Lohnentwicklung ist moderater geworden, und die Verfassung verbietet es den neuen Ländern ab 2020, ihre ausufernde Schuldenpolitik fortzuführen. Die Zeit des lockeren Geldes ist vorbei, und deshalb kann nun eigentlich die Phase des Wachstums beginnen. Leider kommt sie zwanzig Jahre zu spät.