Dokumentation der Debatte zu den Target-Salden

Die Target-Diskussion begann mit der ersten Veröffentlichung des Target-Saldos (WirtschaftsWoche, Nr. 8, S. 35, „Neue Abgründe“) am 21. Februar 2011. Die Deutsche Bundesbank reagierte sofort mit einer Pressenotiz, in der es heißt: „Die Höhe und die Verteilung der TARGET2-Salden über die nationalen Notenbanken des Eurosystems sind für deren Risikoposition aus der Mittelbereitstellung des Eurosystems jedoch unerheblich: TARGET2-Salden stellen für die einzelnen nationalen Notenbanken keine eigenständigen Risiken dar.“

Die Target-Analyse beschäftigte die Politik. Am 23. Februar sprach Prof. Sinn mit Bundespräsident Wulff über die Situation der Europäischen Währungsunion (insbesondere Target2) und erläuterte ihm den EEAG-Bericht, der einen möglichen Mechanismus für die Lösung von Schuldenkrisen von EU-Mitgliedsstaaten vorstellt. Der Bundespräsident übernahm bei seiner Rede vor den Nobelpreisträgern am 24. August 2011 in Lindau die Kritik der EEAG an den Staatspapierkäufen der EZB als Umgehung des Maastrichter Vertrags.

Nach den ersten Veröffentlichungen kam es zu heftiger Kritik in den Internetforen, die zum Teil auch sehr persönlich gehalten war. Heraus stachen die vielfältigen Attacken von Olaf Storbeck im Handelsblatt, die auf Deutsch und Englisch ein falsches Zerrbild der Analyse und der Argumente von Prof. Sinn verbreiteten. Kritisch hatte sich auch Mark Schieritz in den Foren der Zeit geäußert.

Im März und April wurde die Target-Analyse um weitere Aspekte ergänzt und in die öffentliche Diskussion eingebracht: In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung „Tickende Zeitbombe“ (2. April 2011) hat Sinn erstmals die Haftungssummen unter Einschluss der Target-Schulden der Krisenländer berechnet. Dabei ging er von der korrekten Annahme aus, dass sich die Haftungssummen unabhängig von der nationalen Höhe der Target-Forderungen nach Maßgabe der EZB-Kapitalschlüssel verteilen würden. In einem internen Vortrag vor Mario Draghi (Banca d’Italia) mit ausführlicher Diskussion hat Sinn am 22. April 2011 erstmals die Zeitpfade der Target-Salden der Krisenländer und Deutschlands veröffentlicht. Am 4. Mai 2011 erschien Sinns Artikel „Die riskante Kreditersatzpolitik der EZB“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Darin wurde der Target-Saldo erstmals makroökonomisch interpretiert, und es wurde gezeigt, dass er der Differenz zwischen Leistungsbilanz- und Kapitalverkehrsbilanzsaldo gleicht. Unter dem Begriff „Kreditersatzpolitik“ entwickelt Sinn die These, dass die Target-Salden indirekt die Verlagerung der Refinanzierungskredite im Euroraum messen. Der erste öffentliche Vortrag zu den Target-Salden erfolgte in einer Vorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin am 9. Mai 2011. Ein weiterer Meilenstein war Sinns Vortrag zu Target-Salden beim Munich Economic Summit (19. und 20. Mai 2011) und die dortige Pressekonferenz mit Martin Wolf und anderen internationalen Journalisten. Martin Wolf griff das Thema auf und nannte Sinns Analyse in der Financial Times (1. Juni 2011) „brilliant“. Die Financial Times veröffentlichte dabei auch die Kurven der Target-Salden, die Sinn aus den Notenbank-Bilanzen gewonnen hatte. Das war der Durchbruch zur breiten Anerkennung der Target-Thesen, auch wenn Wolf damals heftige Kritik von der EZB und der Finanzwirtschaft einstecken musste. Am 1. Juni 2011 veröffentlichte Sinn einen Aufsatz in VOX zum Target-Problem („The ECB’s stealth bail out“), der Kritik von Karl Whelan (irische Nationalbank) und Willem Buiter et al. auslöste, worauf Sinn am 14. Juni mit einem zweiten Artikel in VOX reagierte („On and Off Target“), in dem er zeigte, dass die Kritik auf bloßen Fehlinterpretationen seiner Analyse und offensichtlichen Missverständnissen beruhte.

Zur wissenschaftlichen Untermauerung der Target-Thesen veröffentlichten Hans-Werner Sinn und Timo Wollmershäuser am 24. Juni 2011 im CESifo Working Paper 3500 „Target Loans, Current Account Balances and Capital Flows: The ECB’s Rescue Facility“ eine erste wissenschaftliche Abhandlung zu den makroökonomischen Aspekten der Target-Salden. Darin wurde erläutert, dass Target-Salden Zahlungsbilanzsalden sind, und für die einzelnen Krisenländer wurde die Beziehung zwischen Leistungsbilanzsalden, Kapitalverkehrssalden und Target-Salden exakt dokumentiert. Es wurde gezeigt, dass Target-Salden in gleicher Weise öffentliche Kreditbeziehungen darstellen wie Kredite, die über die offiziellen Rettungsschirme laufen. Die Verdrängung des Binnengeldes und Refinanzierungskredits in den Kernländern durch das aus den peripheren Ländern hereinströmende Außengeld wurde dabei nachgewiesen. Auch wurde die Beziehung zu dem US-amerikanischen System der Interdistrict Settlement Accounts herausgearbeitet. Es wurde gezeigt, dass die deutschen Target-Forderungen (und nicht etwa nur ein Anteil an den Target-Schulden der Krisenländer) für den Fall des Auseinanderbrechens des Euro in vollem Umfang ein Haftungsrisiko darstellen. In dem Zusammenhang gingen die beiden Autoren umfassend auf die bisher geäußerte Kritik an den Target-Thesen ein. Diese erweiterte Analyse war auch Gegenstand des ifo Working Papers 105 und der Sonderausgabe des ifo Schnelldienstes „Target-Kredite, Leistungsbilanzsalden und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB“.

Die Arbeiten von Sinn und Wollmershäuser lösten eine Flut von Beiträgen zu Target in der überregionalen deutschsprachigen Presse und mit erheblicher Verzögerung dann auch in der Wissenshaft aus (siehe beispielsweise U. Bindseil und P. J. König (2012), U. Bindseil und A. Winkler (2013) oder J. Pisani-Ferry (2013)), wobei den Autoren die Behauptung in die Schuhe geschoben wurde, sie würden in den Target-Salden die Ursache der Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer sehen. Die Diskussionsbeiträge in Internetforen nahmen stark zu und sind inzwischen nicht mehr überschaubar.

Weitere Etappen der Target-Debatte waren Sinns Vorträge bei der CSU-Landtagsfraktion (28. Juni 2011), auf der ifo Jahresversammlung (29. Juni 2011), auf dem IIPF-Jahreskongress (Michigan, 11. August 2011), in der Sitzung des Bayerischen Kabinetts mit Ministerpräsident Seehofer (19. September 2011) und vor der FDP-Bundestagsfraktion (28. September 2011). Einfluss auf die öffentliche Debatte hatten auch der ifo Schnelldienst Nr. 16 vom 31. August 2011 mit 16 Beiträgen zu Target von Autoren aus Wissenschaft und Praxis, darunter Bundesbankpräsident a.D., Helmut Schlesinger, sowie eine Pressekonferenz im Verein der ausländischen Presse (Bundespressekonferenz Berlin) am 12. September 2011.

Die EZB reagierte am 13. Oktober 2011 erstmals mit dem Beitrag „TARGET2-Salden der nationalen Zentralbanken im Euro-Währungsgebiet“ in ihrem Monatsbericht Nr. 10. In einer Fußnote räumte sie ein, dass sie über keine separate Datenbasis zu Target verfügt und die Salden für Länder, die die Salden nicht direkt veröffentlichen, wie Sinn und Wollmershäuser es im Juni taten, aus den IWF-Statistiken berechnet. Tatsächlich bestand noch die Möglichkeit, diese Methode weiter zu verfeinern, indem auch die Salden des Intra-Eurosystems, welche sich auf den Transfer von ausländischen Reserven beziehen, subtrahiert wurden (siehe P. Cour-Thimann (April 2013)).

Die zunehmende Brisanz der Target-Problematik führte im Herbst zu weiteren Vorträgen, die Sinn im Rahmen der Heinrich-Heine-Wirtschaftsprofessur (25. Oktober 2011, Universität Düsseldorf), beim niederländischen Finanzminister (1. November 2011, Den Haag), auf der Ifo-CoR-BrIEF-Konferenz (9. November 2011, Brüssel) und auf der DG ECFIN Annual Research Conference (21. November 2011, Brüssel) hielt.

Auch die wissenschaftlichen Grundlagen der Target-Analyse wurden im Herbst weiter ausgebaut: Am 14. November erschien der wissenschaftliche Beitrag von E. Dor „The enormous loans of the Deutsche Bundesbank to distressed European countries’ central banks“ in IESEG Working Paper Series 2011-ECO-08. Der Autor bestätigte die Thesen der Autoren Sinn und Wollmershäuser vollständig. Das bereits erwähnte CESifo Working Paper No. 3500 von Sinn und Wollmershäuser wurde 2012 in der referierten Zeitschrift International Tax and Public Finance veröffentlicht. Im Herbst 2011 erschien es bereits auch als NBER Working Paper Nr. 17626

Einen Platz in der Geschichte des ifo Instituts wird die „Bogenberger Erklärung“ haben, die aus einer Diskussion auf einer gemeinsamen Strategiesitzung der Kuratoren der ifo-Freundesgesellschaft und des ifo-Vorstands hervorging. Sie wurde am 7. Dezember von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf zwei vollen Seiten unter der Überschrift „Aus Sorge um Deutschland und Europa“ veröffentlicht und rief eine außerordentlich starke (und zustimmende) Resonanz in Form von Leserbriefen und Internetbeiträgen hervor. In der Erklärung wurden die zentralen Ursachen der Währungskrise benannt, Fehlentwicklungen auf dem Weg zu einer Lösung aufgezeigt und Lösungsvorschläge unterbreitet, in deren Zentrum die Forderung nach einem Ausgleich der Target-Salden nach US-amerikanischem Vorbild stand. In den USA müssen die Target-Salden regelmäßig ausgeglichen werden. Würde man das US-System auf Europa übertragen, hätte die Bundesbank das Recht, ihre Target-Forderungen in sichere, marktgängige Wertpapiere umgetauscht zu bekommen. Zur Jahresmitte 2015 lagen die Target-Forderungen der Bundesbank bei 543 Milliarden Euro. (Details)

Am letzten Tag des Jahres 2011 würdigte The Independent die Beiträge Sinns in diesen zentralen Fragen der Zukunft Europas mit seiner Aufnahme in die Riege der „Ten people who changed the world“, und die WirtschaftsWoche kürte ihn zum wichtigsten deutschen Wirtschaftswissenschaftler.  

Die Target-Problematik rückte im Februar 2012, ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung durch Prof. Sinn, in den politischen Fokus, als der neue Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, seine Sorge über die Target-Forderungen der Bundesbank in einem Brief an den Präsidenten der EZB, Mario Draghi, zum Ausdruck brachte. Dort forderte Weidmann nicht nur höhere Bonitätskriterien für die Pfänder der Refinanzierungskredite, sondern verlangte auch eine Besicherung der dramatisch wachsenden Target-Forderungen der Bundesbank. Weidmann hatte seinen Brief nach einer Phase monatelangen Schweigens der Bundesbank zum Thema Target verfasst, in der die Target-Problematik innerhalb der Bundesbank ausführlich beraten worden war. Mit diesem Schreiben rückte Weidmann von der früheren Position der Bundesbank ab, dass es sich bei den Target-Salden um irrelevante Salden handele, die eine normale Begleiterscheinung der Geldschöpfung im Europäischen Währungssystem seien. Diese anfängliche Position der Bundesbank war unter anderem von Helmut Schlesinger, einem früheren Präsidenten der Bundesbank, während dessen Amtszeit der Maastrichter Vertrag abgeschlossen wurde, kritisiert worden.  

Beim Target-Thema gelang es Sinn, seine Position gegen eine breite Phalanx von Interessenvertretern durchzusetzen. So vernichtend die anfängliche Kritik war, die er einstecken musste, so groß war die Anerkennung, die ihm später gezollt wurde (siehe z.B. „Ein Dickschädel”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. März 2012 oder „Der Euro-Fighter“, Die Zeit, 19. Juli 2012). Die Bedeutung der Target-Salden als Maß der von der EZB finanzierten innereuropäischen Zahlungsbilanzsalden wird heute weltweit anerkannt. Mario Draghi erklärte gegenüber Journalisten, dass er die Target-Salden täglich beobachte.

Die aktuellen Target-Salden der einzelnen Euroländer werden auf dieser Website unter der Themen-Rubrik „Target-Salden“ jeden Monat veröffentlicht, sowie auch bei dem von Frank Westermann geleiteten Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Universität Osnabrück. Seit September 2015 berichtet auch die EZB selbst über die Target-Salden.