Der japanische Patient benötigt mehr als nur Strukturreformen

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Handelsblatt, 13.06.2001, 12

Angebotspolitik braucht man nicht, wenn es an Nachfrage fehlt - Die Deflation in Japan lässt sich nur mit makroökonomischen Mitteln bekämpfen

Die Zeiten des japanischen Wirtschaftswunders sind lange vorbei. In den letzten zehn Jahren ist die japanische Wirtschaft um 20% gegen den weltweiten Wachstumstrend zurückgefallen, und während sich die asiatischen Tigerländer von der Krise des Jahres 1998 erholt zu haben scheinen, dümpelt Japan dahin. Im Jahr 2000 lag die reale Wachstumsrate nur noch bei 1,7 %, und erstmals fielen die Preise. Im ersten Quartal 2001 schrumpfte die japanische Wirtschaft gar gegenüber dem Vorquartal um 0,9 %.

Für das laufende Jahr wird eine Preissenkung von 0,7 % erwartet, was angesichts der unzureichenden statistischen Erfassung von Qualitätsverbesserungen faktisch auf einen Rückgang um 1,5 % herauslaufen könnte. Damit ist Japan das einzige OECD-Land, in dem eine Deflation zu verzeichnen ist.

Die neue Regierung unter Ministerpräsident Koizumi will das Problem durch strukturelle Reformen lösen, aber so wichtig diese Reformen sind: Eine Deflation ist ein makroökonomisches Problem, das nur mit makroökonomischen Mitteln zu lösen ist. Angebotspolitik braucht man nicht, wenn es an Nachfrage fehlt, von den Maßnahmen zur Sanierung der wegen der Deflation bereits Not leidend gewordenen Kredite einmal abgesehen.

Die japanischen Haushalte sparen zu viel, und die Firmen investieren zu wenig. Paradoxerweise sind sogar die Firmen in die Gruppe der Nettosparer übergewechselt. Sie treten nicht als Nachfrager der Ersparnisse der Haushalte auf, um daraus ihre Investitionen zu finanzieren, sondern bedienen den Kapitalmarkt selbst mit Ersparnissen.

Für Unternehmen und Haushalte zusammengenommen war laut IWF im Jahr 2000 ein Sparüberhang über die Investitionen in Höhe von 9,3 % des japanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu verzeichnen. Das ist ein äußerst ungewöhnliches Verhältnis. In der EU investiert der private Sektor gar etwas mehr, als er spart. Der japanische Sparüberhang wird zu einem kleinen Teil in einen Kapitalexport umgesetzt, doch zu sage und schreibe 8,2 % des BIP wird er durch eine Neuverschuldung der öffentlichen Hand abgedeckt.

Die japanische Wirtschaft befindet sich offenbar in einer Situation, die von einer "säkularen Stagnation" (Alvin Hansen) nicht mehr weit entfernt ist. Reichliche Investitionen, gespeist aus der hohen Ersparnis einer alternden Bevölkerung, haben bereits eine üppige Kapitalausstattung geschaffen. Es wird immer schwieriger, das neu hinzukommende Sparkapital sinnvoll zu investieren. So war es schließlich der Staat, der die Anlagemöglichkeiten geschaffen hat. Die japanischen Sparer akkumulieren Ansprüche gegen die japanischen Steuerzahler, weil die Investoren sich als Schuldner verweigern.

Der Überschuss der geplanten Ersparnis über die geplanten Investitionen lässt sich als "deflatorische Lücke" beschreiben, weil er einen Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage bedeutet. Der Staat kann diese Lücke schließen, wenn er immer mehr Schulden macht. Die Möglichkeiten, diese Politik fortzusetzen, schwinden aber von Jahr zu Jahr, weil dadurch eine Vertrauenskrise der Anleger mit unübersehbaren Konsequenzen für das Staatswesen heraufbeschworen wird. Noch im Jahr 1992 lag die japanische Verschuldung bei 60 % des Sozialprodukts, nur acht Jahre später lag sie bei über 130 %, und dennoch dreht sich das Schuldenkarussell weiter.

Wenn die Staatsverschuldung schwierig wird, bietet sich eine expansive Geldpolitik an, um die Firmen zu Investitionen zu veranlassen. Leider ist aber auch dieser Weg bereits verbaut, denn die kurzfristigen Zinsen lagen in den letzten Jahren praktisch bei null. Japan steckt in der keynesianischen Liquiditätsfalle. Eine Wirtschaft, die in der Liquiditätsfalle gefangen ist, kann man nicht durch Geldpolitik beleben: Es ist unmöglich, die Nominalzinsen negativ zu machen. jeder würde es vorziehen, sein Geld zu horten, statt es zu negativen Zinsen zu verleihen.

Es gibt allerdings einen Trick, wenigstens die realen Zinsen weiter zu senken. Man muss sehen, dass sich die Wirtschaft bereits vor der Krise an einen Inflationstrend gewöhnt. Wenn die Preise laufend steigen, kann der Realzins durch eine expansive Geldpolitik unter null gedrückt werden, möglicherweise weit genug, um die Wirtschaft in einer Rezession wieder auf Trab zu bringen. Den Japanern ginge es heute besser, wenn sie eine Inflation hätten, doch wenn man erst einmal in der Liquiditätsfalle steckt, lässt sich eine Inflation kaum noch herbeiführen, jedenfalls nicht mittels Geldpolitik.

Die einzige reale Möglichkeit, die Japan heute noch verbleibt, ist die Abwertung der eigenen Währung. Diese kann die japanische Notenbank jederzeit realisieren, indem sie neue Yen druckt und am Devisenmarkt für den Kauf von Dollars einsetzt. Die Abwertung stärkt die Auslandsnachfrage und hilft der Wirtschaft unmittelbar. Mittelbar hilft sie, indem sie die Schaffung eines Inflationstrends ermöglicht. und der Notenbank in einer temporären Rezession das Mittel eines negativen Realzinssatzes zur Belebung der Investitionen zur Verfügung stellt.

Das japanische Problem ist nun allerdings, dass die japanischen Sparer auch unter der neuen Regierung über eine strukturelle Mehrheit im Parlament verfügen. Der neue Ministerpräsident vertritt die Liberaldemokratische Partei, und gerade den hinter dieser Partei stehenden Schichten kommt die Deflation nicht ungelegen, vermehrt sie doch den Realwert des eigenen Geldvermögens. Eine Politik der Währungsabwertung ist insofern politisch nicht durchsetzbar. Das gilt schon heute und wird in der Zukunft erst recht so sein, weil die rasch voranschreitende Alterung der japanischen Bevölkerung dazu führt, das politische Übergewicht der Sparer immer mehr zu vergrößern.

Die japanische Krankheit muss man auch in Europa ernst nehmen. Auch Deutschland ist reichlich mit Kapital ausgestattet und sieht sich mit wachsenden Problemen der Überalterung konfrontiert. Zwar ist hier zu Lande die private Ersparnis wegen der gut ausgebauten Rentenversicherung geringer, doch steckt den Deutschen mehr als anderen Völkern noch immer die Erfahrung früherer Inflation in den Knochen. Außerdem stünde im Falle eines Falles die Abwertung nicht mehr als Politikmaßnahme zur Verfügung.

Das japanische Beispiel zeigt, dass nicht nur in der Inflation eine Gefahr liegt, sondern auch in einer zu rigoros verfochtenen Politik der Preisstabilität. Eine angemessene Abwägung beider Gefahren findet derzeit nicht statt. Dass die Preisstabilität das einzige Ziel ist, auf das die Europäische Zentralbank verpflichtet wurde, kann man angesichts der japanischen Verhältnisse nur mit Besorgnis zur Kenntnis nehmen.

Hans-Werner Sinn

ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und Professor für Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort leitet er zudem das Center for Economic Studies.