4,5 Millionen Verlierer

Die Industrieproduktion wandert aus Deutschland ab
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Zeit, 22.12.2003, S. 28

Auch wenn der Konjunkturaufschwung jetzt kommt: Die Umwälzungen der deutschen Industrielandschaft, die seit Mitte der neunziger Jahre zu beobachten sind, werden weiterhin in bedrohlichem Ausmaß vorankommen. Outsourcing: und Offshoring bleiben die Methoden zur Überwindung der Standortschwäche. Schon des Längeren hat sich die deutsche Großindustrie in Asien, engagiert, um von den niedrigen Lohnkosten zu profitieren und die Weltmärkte von dort aus bedienen zu können. Nun folgt der deutsche Mittelstand mit einem Engagement in Osteuropa. Nach Asien hat sich der Mittelstand größtenteils nicht gewagt, aber nach Osteuropa traut er sich schon, denn die Rüstkosten eines Engagements sind dort sehr viel niedriger. Osteuropa bietet ebenfalls sehr niedrige Löhne, liegt aber vor der deutschen Haustür und gehört dem gleichen Kulturkreis an. Außerdem ist die Transformationskrise der ehemals kommunistischen Länder überwunden, es wurden stabile Rechtssysteme geschaffen, und ein Großteil der Länder wird schon in wenigen Monaten zur EU gehören.

Die Liste der Firmen, die nach Osteuropa ziehen, ist lang und liest sich wie das Who's who des deutschen Mittelstands. Knapp 60 Prozent der vom Institut der deutschen Wirtschaft befragten Unternehmen mit weniger als 5000 Beschäftigten haben bereits Standorte außerhalb der EU-Länder errichtet. Die Firmen brechen ihre Zelte in Deutschland zwar nicht zur Gänze ab, denn ihre weltweite Kundschaft wollen sie weiterhin aus Deutschland bedienen. Aber sie verlagern immer größere Teile ihrer Vorproduktkette nach Osteuropa. Entweder investieren sie dort selbst, oder sie kaufen die Vorprodukte bei anderen Firmen, die sich dort niedergelassen haben.

Die Spannweite der Stundenlohnkosten für Industriearbeiter in den Beitrittsländern reicht von einem Drittel (Slowenien) bis zu einem Zehntel (Estland) der westdeutschen Werte. Polen als das bei weitem größte Land wartet mit Stundenlohnkosten auf, die nur etwa ein Viertel der ostdeutschen und ein Fünftel bis Sechstel der westdeutschen, Lohnkosten ausmachen. An diesen Lohnunterschieden wird sich auch so schnell nichts ändern. Selbst wenn die Beitrittsländer jährlich um zwei Prozent aufholen (die Konvergenzgeschwindigkeit in Westeuropa war ig den vergangenen Jahrzehnten nur halb so hoch), werden die polnischen Stundenlohnkosten für Industriearbeiter im Jahr 2010 erst bei einem Drittel und im Jahr 2020 noch bei weniger als der Hälfte der westdeutschen Kosten liegen. Kein Wunder, dass deutsche Unternehmen auf dem Wege der Standortverlagerung die Möglichkeiten der Kostensenkung ausreizen. Nach einer Untersuchung der Bundesbank hatten sie schon bis zum Jahr 2000 nicht weniger als 2,4 Millionen Arbeitsplätze im Ausland geschaffen.

Unternehmen, die das Spiel nicht mitmachen, riskieren den Untergang. Noch immer eilt die Zahl der deutschen Konkurse von einem Rekord zum nächsten. In Deutschland gibt es heute dreimal so viele Konkurse wie vor zehn Jahren und fünfmal so viele wie vor 25 Jahren. Wegen der Pleiten sind die deutschen Großbanken in eine schwere Krise geraten, aus der sie nur mühsam wieder herausfinden.

Wie massiv der Anreiz ist, der deutschen Standortkrise durch Outsourcing zu entgehen, zeigt sich auch sehr deutlich in der Industriestatistik. So ist zwar die deutsche Industrieproduktion von 1995 bis zum Jahr 2003 um gut 15 Prozent gestiegen, doch nahm die reale Wertschöpfung in der deutschen Industrie in der gleichen Zeitspanne nur um fünf Prozent zu. Das ist insofern bemerkenswert, als sich beide Größen früher weitgehend parallel entwickelten. Zwei Drittel des Zuwachses der deutschen Industrieproduktion seit Mitte der neunziger Jahre sind vermutlich auf das Outsourcing in Niedriglohnländer, und nur ein Drittel ist auf eine Zunahme der einheimischen Wertschöpfung zurückzuführen.

Das wirft ein neues Licht auf die Wettbewerbs- und Exportfähigkeit, denn man muss offenbar zwischen der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Arbeitnehmer unterscheiden. Zwar gelingt es den Unternehmen, dank des osteuropäischen Hinterlandes, auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig zu bleiben, doch die deutschen Arbeitnehmer haben ihre Wettbewerbsfähigkeit großteils bereits verloren. Die Industriebeschäftigung ging im betrachteten Zeitraum um zehn Prozent zurück, ohne dass anderswo die zum Ausgleich benötigten neuen Arbeitsplätze entstanden sind. Insgesamt sind heute rund viereinhalb Millionen Deutsche arbeitslos - viereinhalb Millionen Deutsche sind nicht mehr wettbewerbsfähig.

Die Exporte der deutschen Industrie sind kein ausreichender Maßstab mehr für die Wettbewerbsfähigkeit. Dank der Verlagerung nach Osteuropa kann die deutsche Industrie zwar nach wie vor mit ihren Produkten auf den Weltmärkten glänzen. Der Audi, dessen Motor in Ungarn gefertigt wird, geht mit seinem vollen Wert in die deutsche Exportstatistik ein. Das made in Germany wird aber zu einem Etikettenschwindel. In Deutschland findet vor allem noch die Endmontage statt. Die werthaltigen Teile kommen indes zunehmend aus Osteuropa.

Anders gesagt: Deutschland entwickelt sich in Richtung einer Basar-Ökonomie, die die Welt mit preisgünstigen und hochwertigen Waren bedient, welche sie gar nicht selbst produziert hat.