Hans-Werner Sinn verficht das Interesse der Gläubigernation Deutschland und derer, die sich von Armutszuwanderung bedroht sehen.
Dass Hans-Werner Sinn keine Angst vor schwierigen und heiklen Themen hat, das hat er oft bewiesen. Darauf beruht sein Ruf als einer der einflussreichsten Ökonomen Deutschlands. Selbst aus so sperrigen Themen wie den Target-Salden zwischen Europas Notenbanken machte er Bestseller auf Papier.
Nun hat er in einem Buch drei Themen vereint, von denen zwei - die Flüchtlingsproblematik und die Krisenpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) - die Volksseele bereits stark beschäftigen, und ein drittes, bei dem Sinn sie gern zum Kochen bringen würde: den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU.
Der Titel "Der Schwarze Juni" bezieht sich auf den Monat, in dem die Briten den Austritt beschlossen und in dem das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das OMT genannte Programm der EZB, mit der diese im Notfall unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenländern aufkaufen kann, zulässig sei. Es ist das Buch eines Nationalökonomen, der nur das deutsche Interesse im Blick hat. Was deutsches Interesse ist, etwa wenn deutsche Arbeitnehmerinteressen mit deutschen Kapitalinteressen in Konflikt stehen, ist für den Angebotsökonomen Sinn keine Frage. Es sind die Kapitalinteressen, denn nur die Kapitalseite investiert.
Erstaunlich einseitig Der EU-Austritt der Briten alarmiert Sinn aus zwei Gründen. Zum einen habe es bisher mit den Briten eine Sperrminorität des ehemaligen D-Mark-Blocks gegen die Mittelmeeranrainer und ihre Alliierten gegeben, die eine interventionistische, protektionistische und auf Transfers setzende Politik verträten. Diese Sperrminorität werde künftig verloren gehen, was dazu führen werde, dass Deutschland von Frankreich in eine Transferunion gezwungen werde. "Frankreich kann mit den mediterranen Ländern jetzt durchregieren", warnt Sinn.
Zum anderen weist er ganz unerschrocken der von Angela Merkel ausgerufenen Willkommenskultur eine Mitverantwortung für das Anschwellen des Migrantenzustroms zu. Die dabei entstandenen Bilder hätten eine große Rolle dabei gespielt, dass die Briten am Ende überraschend Nein zur EU sagten. Die Migration innerhalb der EU und von außerhalb werde weiterhin wie ein Spaltpilz wirken, solange das darunterliegende Grundproblem nicht gelöst sei, prognostiziert Sinn. Offene Grenzen, Wohlfahrtsstaat und das Prinzip der Ink lusion von Zuwanderern in den Wohlfahrtsstaat bildeten ein "unmögliches Migrationsdreieck". Nur zwei dieser drei Ziele könnten gleichzeitig verwirklicht werden, weil die Wohlstandsunterschiede selbst innerhalb der EU zu groß seien.
Wer Sinns öffentliche Stellungnahmen zur Euro-Krise kennt, den wird kaum verwundern, was der streitbare Ökonom inhaltlich zu den Krisenmaßnahmen der EZB und zu den "Rettungsprogrammen" schreibt. Erstaunlich ist allerdings bei einem Ökonomen seines Kalibers, wie einseitig und unvollständig die Darstellung der Ereignisse und der Wirkungszusammenhänge ausfällt.
Nur Kosten für Deutschland werden dargestellt, Gewinne, die zu einer vollständigen Bilanz gehören, fallen weitgehend unter den Tisch. Die Interessen der Banken und ihre Rolle bei der Entstehung der Krise und den Reaktionen von Regierungen und Notenbanken werden konsequent ignoriert oder klein geschrieben. "Das viele Geld und die niedrigen Zinsen haben die Motivation dieser Länder, selbst Anstrengungen zur Selbstheilung zu unternehmen, erlöschen lassen", schreibt Sinn. Die Schuldenquoten seien seit den Beschlüssen der EZB über unkonventionelle Maßnahmen dramatisch angestiegen. Das würde jedoch in einem ganz anderen Licht erscheinen, wenn er thematisieren würde, welchen beträchtlichen Anteil teure Bankenrettungen an diesem Anstieg der Verschuldung hatten.
Deutschland profitiert Die Möglichkeit, dass die von ihm geforderten "Strukturreformen" in einer Krise kontraproduktiv wirken könnten, zieht Sinn nicht einmal in Betracht - obwohl der Internationale Währungsfonds und viele renommierte internationale Ökonomen nicht müde werden, genau das zu betonen. Dabei hat Griechenland - unter Anleitung der Troika - so viele dieser "Strukturreformen" beschlossen und umgesetzt wie kaum ein anderes Land. Dass die Schuldenquote dennoch in die Höhe schoss, liegt neben den Kosten der Bankenrettungen nur daran, dass die Wirtschaftsleistung, die im Nenner dieser Quote steht, regelrecht einbrach.
Sinn zählt zu den Kosten, dass Deutschland als internationaler Großgläubiger nur noch eine geringe Verzinsung auf seine Auslandsforderungen bekommt. Was er nicht erwähnt: Weil es aufgrund der Rettungsprogramme und niedrigen Zinsen nicht zu riesigen Forderungsausfällen kam, wurde ein Vermögensverlust vermieden. Auch das Gegenstück der Vermögensposition mit dem Ausland, der riesige Exportüberschuss beim Handel mit dem übrigen Europa, ist für Sinn kein Thema, dabei ist er für Deutschland unzweifelhaft auf der Habenseite zu verbuchen. Doch der ist nur möglich, weil es die Währungsunion gibt und die Rettungsprogramme dafür sorgen, dass die Krisenländer noch Geld für Importe haben. Außerdem wird dieser deutsche Handelsüberschuss von vielen - vor allem nichtdeutschen - Ökonomen für die Krise des Euro-Raums mitverantwortlich gemacht.
Eine "Nachinflationierung" des Nordens, um so das Kostenniveau des Südens relativ zum steigenden Kostenniveau des Nordens abzusenken, lehnt Sinn ab. Im Norden eine höhere Inflation in Kauf zu nehmen wäre eine Enteignung der hiesigen Sparer. Gänzlich unerwähnt bleibt dabei, dass Inflationierung nichts anderes wäre als eine stärkere Anhebung der Löhne. Der "Enteignung" der Sparer würde also ein kräftiger Einkommensgewinn der Arbeitnehmer gegenüberstehen.
Die Rettung deutscher und französischer Banken vor Verlusten aus dem Bankrott von Staaten, Banken und Unternehmen in den Krisenländern war eine wesentliche Motivation für die Art und den Umfang der Rettungsaktionen. Sinn blendet diese Dimension völlig aus. Dabei wären diese ausgebliebenen Verluste zwingend den von Sinn aufgelisteten Kosten für Deutschland entgegenzustellen.
Auch für Hans-Werner Sinn sollte das eherne ökonomische Gesetz gelten: Mit einer Seite einer Bilanz kann man nicht Bilanz ziehen.
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