Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. August 2017, S. 20-21
Das Verfassungsgericht lässt nicht locker. Wieder bekräftigt es seine Meinung, dass die EZB mit den Anleihekäufen ihr Mandat überschreiten könnte, und wieder hat es einen Vorlagebeschluss für den EuGH formuliert, der heftig zur Sache geht. Diesmal kritisiert das oberste deutsche Gericht das QE-Programm der EZB, und zwar mit Argumenten, die der EuGH bei der Rückweisung der deutschen Bedenken gegenüber dem OMT-Programm selbst formuliert hat. Während das OMT-Programm eine kostenlose Kreditausfallversicherung für die Käufer von Staatspapieren ist, weil die EZB den Anlegern verspricht, ihnen toxische Papiere abzukaufen, bevor der Staatskonkurs droht, sieht das QE- Programm vor, dass die Notenbanken der Eurozone solche Käufe tatsächlich realisieren. Bis zum Ende dieses Jahres werden mit frisch gedrucktem Geld für etwa 1,8 Billionen Euro Staatspapiere gekauft worden sein, bei einer anfänglichen Zentralbankgeldmenge von 1,3 Billionen am Beginn des Programms.
Was ich höchst bemerkenswert finde ist, dass das Verfassungsgericht betont, dass die EZB keine Politik betreiben darf, die absehbar zu Verlusten der Bundesbank führt, die dann zwangsläufig auf dem Wege verminderter Gewinnausschüttung oder gar auf dem Wege einer Rekapitalisierung der Bundesbank auf den deutschen Staat durchschlagen. Nur Verluste aufgrund von Kursänderungen bei erworbenen Papieren, die man kaum vorhersehen könne, seien zu akzeptieren. Das Verfassungsgericht wendet sich deshalb eindeutig gegen den Kauf deutscher Staatspapiere durch die Bundesbank, wenn diese Papiere bis zur Fälligkeit eine negative Rendite aufweisen.
Das ist insofern wichtig, weil ja auch schon der Standpunkt vertreten wurde, es sei nichts dagegen einzuwenden, wenn die EZB toxische Papiere ankauft und Abschreibungsverluste einfährt, weil die Gewinnerzielung nicht zum Mandat der EZB gehört. Den Vertretern dieser Position ist nun ein vermeintliches Totschlagargument abhanden gekommen.
Ein Aspekt, den das Gericht nicht diskutiert, der aber auch auf absehbare Verluste hinausläuft, liegt in den Target-Salden, die wegen des QE-Programms nun schon wieder seit drei Jahren ansteigen. So lagen die Target-Forderungen der Bundesbank zuletzt bei 857 Milliarden Euro. Selbst ein nur partieller Ausfall dieser Forderungen könnte auf ein Vielfaches dessen hinauslaufen, was die Bundesbank ohne Rekapitalisierung durch den Steuerzahler an Verlusten verkraften könnte. Die Rekapitalisierung im Falle von Eigenkapitaleinbußen wäre nach Meinung des Gerichts unerlässlich, weil der Staat die Anstaltslast hat und der Bundesbank einen ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb ermöglichen muss.
Schon bis zum August 2012 waren die Target-Forderungen der Bundesbank dramatisch gewachsen, damals bis auf 751 Milliarden Euro, aber sie waren danach bis zum Sommer 2014 wieder auf 444 Milliarden Euro gefallen. Der neuerliche Anstieg auf fast das Doppelte muss im Lichte des Vorlagenbeschlusses zu tiefer Besorgnis Anlass geben, denn die Target-Forderungen sind kaum werthaltig.
Der Grund für den Anstieg der Forderungen bis zum Sommer 2012 lag seinerzeit in der Weigerung der internationalen Kapitalmärkte, die Leistungsbilanzdefizite der südeuropäischen Länder und Irland weiterhin zu finanzieren. In ihrer Not "druckten" sich die Länder das Geld, das sie brauchten, um ihre Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. So konnten sie weiterhin mehr Waren importieren, als sie exportierten, ihre fälligen Schulden bezahlen, die die ausländischen Gläubiger nicht mehr weiterwälzen wollten, und ihren reichen Bürgern erlauben, im Ausland Immobilien, Firmen und Wertpapiere zu kaufen, um ihr Vermögen auf diese Weise in Sicherheit zu bringen. Die Nettoüberweisungen mit dem frisch geschaffenen Geld werden durch die Target-Salden gemessen, denn sie begründen Schuldverhältnisse zwischen den nationalen Notenbanken.
Ermöglicht wurde diese Selbstbedienung mit der Druckerpresse im Wesentlichen dadurch, dass der EZB-Rat die Mindestanforderungen für die Qualität der Pfänder, die Banken für Notenbankkredite hinterlegen mussten, auf das Schrottniveau drückte; dass die Notenbanken der Krisenländer für Hunderte von Milliarden Euro ELA-Notfallkredite nach eigenem Gutdünken vergaben; und dass man die Möglichkeiten des ANFA-Geheimabkommens ausnutzte. Allein die italienische Notenbank hat nach dem ANFA-Abkommen für über 100 Milliarden Euro Staatspapiere mit selbst gedrucktem Geld erworben.
Die Selbstbedienung mit der Druckerpresse war freilich ein elektronischer Vorgang. Konkret war es so, dass die nationalen Notenbanken der Krisenländer frisch geschaffenes Geld an die Banken ihres Hoheitsgebietes verliehen, was die Banken und ihre Kunden in die Lage versetzte, Zahlungsaufträge an das Ausland zu realisieren, ohne illiquide zu werden. Mit dem Überweisungsakt wurde das neu geschaffene Geld in den Krisenländern wieder eingezogen und musste dann von den Zentralbanken jener Länder neu geschaffen werden, die die Überweisungsaufträge auszuführen hatten, allen voran der Bundesbank. Die Bundesbank hat auf diese Weise die ursprünglich von den Notenbanken der Krisenländer vergebenen Sonderkredite refinanzieren müssen.
Mit dem QE-Programm hatten sich die Kapitalmärkte wieder beruhigt und gewährten den Krisenländern neue Kredite, was zu privaten Rücküberweisungen in die Krisenländer führte und die Target-Salden wieder sinken ließ.
Die Freude über den Rückgang der Salden währte aber nicht lange. Ab dem Sommer 2014 stiegen die Salden unaufhaltsam wieder an. Das lag, wie die EZB mit Nachdruck betont, nicht mehr an der Kapitalflucht, sondern war ein gewollter oder in Kauf genommener Effekt ihrer QE-Politik. Die EZB sagt das zur Beruhigung der Öffentlichkeit. In Wahrheit hat die Öffentlichkeit allen Grund, gerade deswegen beunruhigt zu sein, denn die neuen Salden sind das Ergebnis eines gigantischen Umschuldungsprogramms, bei dem lästige private Gläubiger durch nette Zentralbanken anderer Länder ersetzt werden.
Da jede Notenbank in Proportion zur Landesgröße nur die Papiere ihres Staates kauft und zudem für Ausfälle gegenüber dem Eurosystem haften soll, mag man den Vorgang zunächst für unproblematisch halten. Doch zum einen betont das Verfassungsgericht, dass die seinerzeit von der Bundesbank erzwungene Selbsthaftung vom EZB-Rat jederzeit wieder kassiert werden könnte, und zum anderen sind die Papiere, um die es geht, nicht gleichmäßig in der Welt verteilt. So liegen die Papiere der Krisenländer vielfach außer Landes, weil diese Länder in der Zeit vor der Krise ihre riesigen Leistungsbilanzdefizite durch deren Verkauf an ausländische Investoren finanziert hatten. Wegen dieser Asymmetrie führt der Rückkauf seitens der Notenbanken der jeweiligen Ursprungsländer zu neuen Nettoüberweisungen zwischen den Euroländern, die die Target-Salden ansteigen lassen.
Um es konkret zu machen, betrachte man als Beispiel den Rückkauf spanischer Staatspapiere von einem deutschen Lebensversicherer, der diese Papiere vor der Krise mit Mitteln erworben hatte, die sich Deutschland durch seine Exportüberschüsse verdient hatte. Um den Rückkauf zu realisieren, gibt die spanische Notenbank der Bundesbank den direkten Auftrag, neues Geld herzustellen und dem Lebensversicherer zu übergeben. Abermals ist die Bundesbank zur Kreditierung einer Überweisung gezwungen und erhält dafür eine Target-Forderung. Diese Transaktion ist ein Vermögenstausch, der eine zinstragende, verbriefte und mit einer Fälligkeit ausgestattete Schuld Spaniens gegenüber einem privaten ausländischen Gläubiger, eben dem deutschen Lebensversicherer, in eine Buchschuld beim Eurosystem und damit indirekt bei der Bundesbank verwandelt; eine Buchschuld, die niemals fällig gestellt werden kann und nur einen Zins in Höhe des Zentralbankzinses (Hauptrefinanzierungssatz) erwirtschaftet. Diesen Zins hat die Mehrheit des EZB Rates, die von den netto im Ausland verschuldeten Ländern der Eurozone gebildet wird, inzwischen aber auf null gesetzt.
Sicher, die spanische Staatsschuld als solche bleibt bei dieser Transaktion rein rechtlich gesehen bestehen. Doch gehören die über den Zentralbankzins hinausgehenden Zinserträge auf diese Schuld dem spanischen Staat selbst. So gesehen ist die Staatsschuld ökonomisch zumindest teilweise verschwunden und in eine bloße Buchschuld der spanischen Notenbank gegenüber dem Ausland verwandelt worden. In Deutschland hat der Lebensversicherer nun Geld statt der spanischen Papiere, aber dieses Geld ist eine Forderung gegen die Bundesbank, die nur durch deren Target-Forderung gedeckt ist. Die Bundesbank wird durch den Prozess zur nachträglichen Finanzierung der spanischen Leistungsbilanzdefizite gegenüber Deutschland gezwungen.
Dabei geht es nicht nur um das Defizit mit Deutschland. Die Bundesbank wird durch das QE-Programm gezwungen, an der Bereinigung der spanischen Schuldenlage gegenüber dem gesamten Rest der Welt mitzuwirken. Wenn die spanische Notenbank z.B. ein Staatspapier von einem Investor in Schanghai zurückkauft und dieser Investor für seinen Erlös einer deutsche Firma erwirbt, dann muss die Bundesbank das Geschäft kreditieren. Sie hat wieder eine Target-Forderung, während die spanische Notenbank eine entsprechende Target-Verbindlichkeit verbuchen muss. Der deutsche Verkäufer erhält das Geld von der Bundesbank, hat also einen Titel gegen sie. Jedoch ist die Firma nun in China, und das spanische Schuldpapier ist wieder in Spanien.
Das ist natürlich nur ein Beispiel. Jedoch verwenden die außereuropäischen und europäischen Verkäufer von QE-Papieren ihre Erlöse tatsächlich bevorzugt für den Erwerb von Vermögensobjekten in Deutschland. Das ist einer der Gründe für die derzeitige Überhitzung des deutschen Immobilienmarktes, die sich deutlich am Rekordwert der Auftragsbestände der freischaffenden Architekten oder auch an den Preissteigerungen der Immobilien zeigt. Derzeit liegt das Überweisungsgeld, das die Bundesbank in Erfüllung ausländischer Zahlungsaufträge hat schaffen müssen, bei 30 Prozent der gesamten Zentralbankgeldmenge des Eurosystems. Das ist eine große Summe, wenn man bedenkt, dass die Bundesbank bei einer symmetrischen Geldpolitik größengemäß 26 Prozent dieser Zentralbankgeldmenge durch Kreditvergabe an die deutschen Banken geschaffen hätte, ohne dass noch Geld hinzugekommen wäre, das bloß in Erfüllung von Überweisungsaufträgen geschaffen werden musste.
Häufig wird behauptet, die möglichen Verluste der deutschen Volkswirtschaft aus den Target-Salden seien vernachlässigbar, weil sie nur auftreten würden, wenn der Euro zerbricht. Im Falle eines Konkurses einer anderen Notenbank würden die Verluste brüderlich geteilt. Deutschland solle sich nicht aufregen.
Diese Position verkennt, dass eine Forderung, die man nicht fällig stellen kann und die derzeit und vermutlich noch eine sehr lange, unbestimmte Zeit, die von den Kreditnehmern selbst definiert werden kann, einen Zins von Null oder nahe Null trägt, ohnehin kaum noch etwas wert ist. Private Unternehmen würden sie vermutlich mit einem Erinnerungswert von einem Euro in der Bilanz berücksichtigen. Jedenfalls ist die gemeinschaftliche Verpflichtung des Eurosystems, der Bundesbank Zinsen in Höhe von null zu garantieren, ziemlich wertlos.
Wirklich problematisch wird die Sachlage aber, wenn man bedenkt, dass die Target-Salden heute ein Ausmaß erreicht haben, dass die Zentralbanken mancher Krisenländer ihre Target-Schulden im Falle einer Rückkehr zu einer normalen Geldversorgung der Eurozone und zu normalen Zinsen möglicherweise gar nicht mehr bedienen könnten, wenn die dahinter stehenden Kreditforderungen ausfallen. Da die Zinsen auf die Target-Schulden bereits wesentlich größer sind, als die Zinsansprüche an den gemeinsamen Pool der Erträge aus den normalen geldpolitischen Operationen, müssten sie ihr Eigenkapital einsetzen, von dem sie aber nicht sehr viel haben. Da hilft die vereinbarte Selbsthaftung für die Staatspapiere rein gar nichts, denn einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche greifen. Auch die jeweiligen Nationalstaaten werden nicht zu Hilfe kommen, denn eine Durchgriffshaftung ist in den EU-Verträgen ausdrücklich ausgeschlossen, und warum sollten sie, ähnlich wie der deutsche Staat als Gläubiger es täte, eine Anstaltslast akzeptieren, wenn die nur dazu führen würde, dass mehr Mittel an andere Länder abzuführen sind. Deshalb befürchte ich, dass die spanische und italienische Notenbank mit Target-Schulden im Umfang von je etwa 400 Milliarden Euro gar nicht der Lage wären, ihren Zinsverpflichtungen gegenüber dem Eurosystem nachzukommen, wenn die erworbenen Staatspapiere ausfallen. Und sie könnten sie natürlich auch nicht im Innenverhältnis des Eurosystems durch Gelddruck erfüllen, denn Geld drucken könnten sich die Gläubiger-Zentralbanken schließlich auch selbst.
So oder so sind die Target-Buchungen der Bundesbank schon heute weitgehend Luftnummern, die der Bilanzkosmetik dienen, die ökonomische Wirklichkeit aber nicht mehr widerspiegeln. Deutschland sollte sich darauf einstellen, auch dann größere Teile seiner Target-Forderungen effektiv zu verlieren, wenn der Euro weiterexistiert. Da die Target-Forderungen mittlerweile halb so groß sind wie das gesamte Nettoauslandsvermögen der Bundesrepublik Deutschland, das durch die Akkumulation der Leistungsbilanzüberschüsse gebildet wurde, stellt sich bald die Frage nach der Sinnhaftigkeit des gesamten Euroexperiments. Deutschland muss sich überlegen, wie lange es noch der Kaufladen sein will, in dem man beliebig anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladenbesitzer seine Forderungen fällig stellen oder zumindest Zinsen verlangen kann.
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