Bloß die Briten nicht abstrafen

Die Europäische Union sollte Großbritannien ein großzügiges Freihandelsabkommen anbieten, empfiehlt Hans-Werner Sinn.
Hans-Werner Sinn

Handelsblatt, 08.02.2017, S. 48

Theresa May hat die Entscheidung verkündet. Ohne Wenn und Aber wird Großbritannien aus der EU ausscheiden und dann neue Handelsabkommen vereinbaren. Lösungen wie für die Schweiz oder Norwegen gefallen den Briten nicht, weil sie ihre Immigrationspolitik allein bestimmen wollen. Sie wollen sich auch nicht mehr dem EuGH unterwerfen, den sie beschuldigen, interessengeleitete Entscheidungen getroffen zu haben.

Die EU-Offiziellen reagieren verschnupft und drohen an, Großbritannien den Freihandel zu verwehren. Man könne nicht zulassen, dass sich die Briten die Rosinen aus dem gemeinsamen Markt herauspicken. Freihandel und Freizügigkeit gehörten logisch zusammen. Auch bestehe die Gefahr, dass es Nachahmer gebe, wenn man Großbritanniens Wünschen nun entgegenkomme. Das Ziel, die Briten abstrafen zu wollen, ist klar erkennbar. Beide Argumente sind fundamental falsch.

So bedauerlich es ist, dass die Briten aus der EU ausscheiden, so falsch ist die Auffassung, Freihandel und Arbeitnehmerfreizügigkeit würden einander bedingen. Gerade dann, wenn Arbeitskräfte nicht wandern können, sind die beiderseitigen Gewinne aus Freihandel besonders groß. Migration und Freihandel sind nämlich bezüglich der ökonomischen Wirkungen und der Wohlfahrtsgewinne, die daraus resultieren, weitgehend Substitute, wie die reine Außenhandelstheorie schon lange nachgewiesen hat. Wenn die Migration nicht möglich ist und sich insofern unterschiedliche Lohnstrukturen zwischen den beteiligten Ländern ergeben, sind die Handelsgewinne besonders groß. Unterschiedliche Lohnstrukturen bedingen nämlich unterschiedliche Güterpreisstrukturen, die selbst wiederum der Grund für die Freihandelsgewinne sind. Kurzum: Die EU würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie nicht auf die Freihandelsbegehren der Briten einginge.

Auch das Argument, man müsse sonst Angst vor Nachahmern haben, ist in höchstem Maße dubios. Es gibt zwei Typen von Föderationen. Der eine Typus genügt dem Kriterium der Pareto-Optimalität. Die Gemeinschaft trifft ihre Entscheidungen im Einvernehmen aller Länder, und weil das so ist, werden nur solche Entscheidungen getroffen, die für einzelne oder alle Länder Vorteile bringen, ohne dass jemand Nachteile hat. Sind die Gemeinschaftsentscheidungen einstimmig, ist sichergestellt, dass sie den Kuchen vergrößern und dass jeder freiwillig mitmacht, weil er sich besser stellt.

Der andere Typus ist durch die Umverteilung von Ressourcen zwischen den Ländern und Mehrheitsentscheidungen gekennzeichnet. Hier gibt es Gewinner und Verlierer. Da die Mehrheit ihre Entscheidungen auch dann durchdrücken kann, wenn sie dabei weniger gewinnt, als die Verlierer verlieren, wird der Kuchen durch die Gemeinschaftsentscheidungen häufig verkleinert, und sehr unzufriedene Länder bleiben zurück.

Dieser Typus von Union ist inhärent instabil, denn die Verlierer neigen zum Austritt. Um sie daran zu hindern, muss man sie bestrafen, wenn sie es tun. Das ist offenbar die Logik, die vielen EU-Politikern vorschwebt. Deswegen soll an Großbritannien ein Exempel statuiert werden.

Der neue amerikanische Präsident gibt den Briten freilich Rückendeckung, und er prognostiziert, dass noch mehr Länder austreten werden. Damit er mit seiner Prognose nicht recht bekommt, sollte die EU sich ändern und von ihren umverteilenden Maßnahmen ablassen. Das gilt insbesondere auch für die neuen Pläne, einen gemeinsamen EU-Finanzminister mit einer eigenen Steuerhoheit einzurichten.

Nur eine Union, die dem Pareto-Prinzip genügt, ist inhärent stabil. Eine Union, die zwischen den Ländern umverteilen will, läuft stattdessen Gefahr, eine Zwangsgemeinschaft zu werden, in der sich auch noch andere Länder sehr unwohl fühlen werden. Wer sie mit Strafen und Zwangsmaßnahmen zusammenhalten will, riskiert, dass sie das Schicksal der Sowjetunion erleidet.

Auch das spricht dafür, Großbritannien ein attraktives Freihandelsabkommen anzubieten, statt es zu bestrafen. Nur wenn der Austritt aus der EU nebst einer attraktiven Position außerhalb der EU möglich ist, sind die Nettozahler der EU gegen Ausbeutung geschützt, und nur dann ist die EU stabil, so paradox das zunächst klingen mag. Die Freiwilligkeit des Bündnisses ist die Grundvoraussetzung für seine wirtschaftliche Prosperität und seinen Erhalt.

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