Hans-Werner Sinn warnt vor politischen Folgen des Brexits
Besser hätte das Timing nicht sein können. Am 2. Oktober hatte die britische Regierungschefin Theresa May verkündet, dass Großbritannien bis spätestens kommenden März den Prozess des Austritts aus der EU starten werde. Der Pfund-Kurs brach ein. Zwei Tage später erläuterte Hans-Werner Sinn, Deutschlands bekanntester Ökonom der letzten Jahrzehnte, vor über hundert Mitgliedern des Handelsblatt Wirtschaftsclubs in Frankfurt die immense Bedeutung des britischen Austritts für Deutschland. Wie in seinem demnächst erscheinenden Buch "Der Schwarze Juni", auf das er in seinem Vortrag zurückgriff, verband er die Analyse des Brexits mit dem Flüchtlingsthema und dem "Euro-Desaster".
Dabei scheute Sinn, der bis März das Münchener Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung geleitet hatte, wie gewohnt nicht vor unbequemen Thesen zurück. So führte er das für viele überraschende Ja der Briten zum Austritt aus der Europäischen Union auf die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 zurück. Durch die Sogwirkung der Willkommenskultur und die rechtswidrige Öffnung der Grenzen seien die Migrantenzahlen nach oben geschnellt. Das habe das Zuwanderungsthema in der britischen Austrittsdiskussion dominierend werden lassen.
Während Sinn mit solchen Thesen in Fernseh-Talkshows wohl einen Sturm der Entrüstung entfachen würde, erntete er an diesem Abend im historischen IG-Farben-Haus der Universität Frankfurt allseitiges Kopfnicken und am Ende langanhaltenden Applaus. Das Publikum sah es offenkundig ebenso wie Moderator Dirk Heilmann, geschäftsführender Direktor des Handelsblatt Research Institute, der Sinn nach diesem Vortrag einen überzeugten und leidenschaftlichen Europäer nannte.
"Wir brauchen einen ernsthaften Diskurs über die Zukunft Europas", forderte Sinn in der lebhaften Diskussion mit den Clubmitgliedern und fügte hinzu: "Ja, es plagt mich, dass Frau Merkel nichts dazu beiträgt." Unverkennbar war es auch ein Seitenhieb auf die Bundeskanzlerin, als er sagte: "Es ist jetzt nicht die Zeit des Aussitzens."
Was Sinn so alarmiert, ist ein bisher wenig beleuchteter Aspekt des Brexits. Bisher habe der alte D-Mark-Block, wie Sinn die Länder mit einst enger Wechselkursanbindung an die D-Mark nennt, zusammen mit dem Vereinigten Königreich eine Sperrminorität von 35 Prozent im EU-Ministerrat. Damit sei sichergestellt, dass die aus Sinns Sicht eher staatsinterventionistisch orientierten Mittelmeerländer keine Beschlüsse gegen den Willen der eher wirtschaftsliberalen Länder durchsetzen können. Umgekehrt hätten auch die Mittelmeerländer eine Sperrminorität. Im Ergebnis müsse es immer Kompromisse geben, mit denen beide Blocks leben könnten.
Dominantes Frankreich Dieses Kräftegleichgewicht sei beim Aushandeln der Abstimmungsregeln in den EU-Verträgen absichtsvoll hergestellt worden. Wenn Großbritannien austrete, sei es mit diesem Gleichgewicht vorbei. Deutschland müsse damit rechnen, bei der weiteren Fortentwicklung der EU vom französischen Interesse an einer Vergemeinschaftung von Risiken und dem Ausbau von Finanztransfers dominiert zu werden. "Deshalb muss Deutschland jetzt eine Neuverhandlung der Abstimmungsregeln verlangen, notfalls mit einer Änderungskündigung", forderte Sinn. Das sei zwar nicht ungefährlich, räumte er in der Diskussion ein: "Das jetzt einfach so laufen zu lassen wäre aber noch gefährlicher", betonte er, denn dann werde die EU sicherlich irgendwann auseinanderbrechen.
Für die Scheidungsverhandlungen mit den Briten wünscht sich Sinn ein Ende des "völlig verfehlten Geredes" von der Rosinenpickerei, die man den Briten nicht erlauben dürfe. Freier Handel sei sowohl im Interesse der Briten als auch der übrigen EU. Es nütze niemandem, Freihandel mit der Entscheidung über die Freizügigkeit des Personenverkehrs zu verknüpfen und das eine nur zusammen mit dem anderen zu "gewähren".