zeit.de, 4. Juli 2017
Man erwartet vieles, wenn man dieser Tage Hans-Werner Sinn zum Gespräch über Deutschland trifft. Deutschlands bekanntester Ökonom und ifo-Präsident a. D. schreibt nämlich selbst im Ruhestand noch unermüdlich gegen die Fehler der Euroretter an, gegen die Sünden der Bundesregierung und die fatalen Folgen des Brexit. Sinn ist einer, der sich noch nie gescheut hat, Worte wie Scheitern, Ruin oder Staatsbankrott in den Mund zu nehmen. Manche nennen ihn deshalb "Professor Gnadenlos". Andere sagen, er sei der "Dr. Doom von Deutschland", der ökonomische Untergangsprophet. Krisen hat er zuletzt ja mehr als genug prophezeit – Eurokrisen, Schuldenkrisen, Wirtschaftskrisen.
Am allerwenigsten erwartet man deshalb einen tiefenentspannten und gut gelaunten Hans-Werner Sinn, der sich erst einmal mit einem Espresso auf Touren bringt, die Fenster öffnet, damit im holzvertäfelten Büro auch zwei Leute bei Hochsommertemperaturen Luft zum Atmen haben. Und dann sagt er: "Deutschland geht es gut."
Hat er das wirklich gesagt? "Ja, die Konjunktur läuft prächtig, der Ifo-Index ist auf dem höchsten Wert, den wir seit 1991 hatten, die Arbeitslosigkeit auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Auch der Export läuft ausgezeichnet." Dann folgt aber doch noch dieser Satz: "Wenn das so weiter geht, nähern wir uns dem Überhitzungsbereich." Die Krise ist also noch da, zumindest als nahe Möglichkeit. Denn auf jede Überhitzung folgt ja klassischerweise eine Krise, oder? Doch so leicht zieht Sinn die Schlüsse nicht: "Natürlich kann es nicht ewig so weitergehen, nichts geht ewig so weiter. Vorläufig können wir uns aber über die gute Konjunkturlage freuen."
"Einen Boom haben wir vermutlich noch nicht"
Vorläufig. Und wie lange kann das noch weitergehen? Nun sehen viele Ökonomen einen Aufschwung, aber ist das schon der Boom? Der Boom ist der Gipfel, danach geht es wieder bergab. An diesem Punkt stehe Deutschland noch nicht, sagen die meisten Ökonomen, dafür seien die Löhne noch viel zu niedrig und die Preise nicht stark genug gestiegen – jedenfalls wenn man es mit den vergangenen Aufschwüngen vergleicht. "Diese Argumentation verstehe ich", sagt Sinn. "Einen Boom in diesem Sinne haben wir vermutlich noch nicht, wir sind noch in der Aufschwungphase. Der Aufschwung ist aber stark."
Woran er das festmacht? Am Tiefstand der Arbeitslosigkeit, an den Aufträgen der freien Architekten, die laut ifo-Zahlen schon wieder den Höchststand des Wiedervereinigungsbooms erreicht haben, und am Bauboom in den Ballungszentren. Bei dem fühlt sich Sinn an den Bauboom erinnert, den die Republik zuletzt in den 70er Jahren erlebte. Übrigens habe er selbst den langen Aufschwung beim Bau schon im Frühsommer 2010 vorhergesagt , "aber damals wollte es noch keiner hören. Inzwischen weiß man, dass er genau in diesem Jahr begann." Zuletzt warnte sogar die Bundesbank, es blähe sich am Immobilienmarkt eine Blase auf.
Insgesamt, so sagt die Statistik, kann so ein Boom am Bau gut eineinhalb Jahrzehnte andauern, "etwa die Hälfte davon hätten wir dann schon", meint Sinn. Blieben also noch rund sieben Jahre. Der deutsche Konjunkturaufschwung gehe jedenfalls 2018 "mit voller Power weiter". So zumindest prognostizieren es auch das ifo Institut und der Internationale Währungsfonds. Aber wie stark und stabil ist Deutschland wirklich? Und haben sich nicht schon viele Ökonomen mächtig geirrt?
Sinn steht zu seinen Warnungen
In dem Buch, mit dem Sinn seinen Durchbruch erzielte, fragte er vor Jahren schließlich auch: "Ist Deutschland noch zu retten?" Sinn warnte, dass die Republik der "kranke Mann Europas" sei: Die Löhne hierzulande seien zu hoch und Deutschland international nicht wettbewerbsfähig. Das war 2003. Auch gegen Mindestlöhne und den deutschen Exportüberschuss wetterte er später. Zu all dem steht er auch heute noch. Nur in puncto Lohnhöhe relativiert er: "Das ist lange her, damals stimmte das", sagt Sinn, "damals waren wir das Land mit den höchsten Lohnkosten weltweit."
Dann habe Schröder seine Reformen umgesetzt und die Agenda 2010. Die hätten zu einer größeren Lohnspreizung geführt und einem geringeren Lohnanstieg. Daraufhin sei die Massenarbeitslosigkeit bei den Geringverdienern gesunken. Das sagt er oft und ergänzt: "Ich fand, dass Schröder die richtige Richtung eingeschlagen hatte, aber er hätte noch energischer voranschreiten können. Denn eigentlich dürften wir praktisch gar keine Arbeitslosigkeit mehr haben. Als ich studierte, um das Jahr 1970, hätte Westdeutschland nur 150.000 Arbeitslose gehabt. Einen winzigen Bruchteil des heutigen Niveaus."
Trotzdem hat Deutschland offenbar seine Hausaufgaben gemacht, oder? "Die wesentlichen, ja", findet Sinn, "aber längst nicht alle. Wir haben ein riesiges Demografieproblem, das kriegen wir überhaupt nicht in den Griff. Unsere Kinderarmut können wir nicht mehr korrigieren. Und wir haben ein Problem mit dem Rentensystem – da ist der Zug auch abgefahren." Außerdem exportiere Deutschland zu viel. Der Leistungsbilanzüberschuss sei zu groß, wegen der Unterbewertung des Euro. "Deutschland verkauft seine Exporte zu billig und erhält für den Leistungsbilanzüberschuss zudem Schuldscheine, die man uns eines Tages um die Ohren schlagen wird. Und zum Teil sind es nicht einmal Schuldscheine, sondern nur Buchforderungen, weil die Bundesbank die Hälfte der Überschüsse finanziert."
Das klingt schon wieder eher nach dem warnenden und mahnenden Hans-Werner Sinn, der sich um die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland und Europa ernsthaft Gedanken macht. Den Mindestlohn hält er in dem Zusammenhang nach wie vor für einen Fehler. In einer Studie, an der auch ein ifo-Mitarbeiter beteiligt war, wurde vor einigen Jahren errechnet, dass der Mindestlohn die Republik 900.000 Jobs kosten werde. Tatsächlich wurden seit der Einführung rund fünf Millionen neue Stellen geschaffen. Widerlegt das nicht die These?
"Wer sagt uns denn, dass es ohne Mindestlohn nicht noch viel mehr gewesen wären?", fragt Sinn, "die Studie enthielt keine unbedingte Prognose, sie hat nur einen Differenzialeffekt berechnet." Sein Beleg: Im Osten, wo der Mindestlohn wegen der niedrigeren Löhne eine höhere Wirkung entfaltet, sei die Beschäftigungsdynamik viel geringer ausgefallen als in anderen Bundesländern. Sein Fazit lautet deshalb: "Der Mindestlohn passt generell nicht in eine Marktwirtschaft. Spätestens im Abschwung wird er zum Hemmnis. Ich würde den Mindestlohn abschaffen und stattdessen die Einkommen am unteren Rand durch viel höhere Lohnzuschüsse ergänzen." Alles andere sei mit den Regeln einer Marktwirtschaft nicht kompatibel. "Aber manchmal ist der Patient eben unwillig." Oder die Ärzte, in diesem Fall also die Politiker, "weil Politiker eben keine Ökonomen sind". Weil sie lieber den Wettbewerb um die Höhe der Mindestlöhne austrügen, als das dem freien Markt zu überlassen. Weil sie die Gesetze der Marktwirtschaft nicht kennten und deshalb lieber moralisierten. Sein härtester Vorwurf lautet: "Wir verfrühstücken dank der Unterbewertung des Euro unsere Wettbewerbsvorteile durch konsumierende Politik. Dazu gehört der Mindestlohn, die Abschaffung der Atomkraftwerke, die Beherbergung von vielen Wirtschaftsmigranten aus Nicht-EU-Ländern, die Frührente und vieles mehr."
Aus seiner Sicht resultiert der jetzige Boom nur aus einem, "der Unterbewertung des Euro". Die Kreditblase im Süden Europas und der schwache Eurokurs hätten die Wettbewerbsfähigkeit der Südländer durch eine Super-Inflation geschwächt und dadurch Deutschland relativ immer billiger gemacht. Außerdem habe die Geldvermehrung der EZB zur Abwertung des Euro geführt. "So lange wir weiter fleißig reinbuttern und im Süden die fehlende Wettbewerbsfähigkeit mit immer mehr Geld zukleistern, hält der Euro." Und solange die EZB die Märkte weiter mit Geld flutet, drückt sie den Eurokurs auch, "das erhält die Wettbewerbsfähigkeit Südeuropas und Frankreichs künstlich aufrecht". Aber sind nicht die Exportüberschüsse für Deutschland ein Segen? Nein, sagt Sinn: "Deutschland ist der Kaufladen, in dem sich die Welt bedient, wo sie aber nur die Hälfte bezahlen muss, weil die Bundesbank die andere Hälfte finanziert." Nachhaltig sei das alles nicht.
Es gebe daher keinen harmlosen Weg aus der derzeitigen Misere Südeuropas – es gebe nur vier Möglichkeiten: "Erstens könnte man eine Transferunion mit deutschem Geld zimmern. Zweitens könnte sich Südeuropa der Rosskur einer Preissenkung unterziehen, um die überhöhten Preise wieder auf Normalniveau zu bringen. Drittens könnte man Deutschland nachinflationieren, um die übermäßige Inflation der Südländer aus der Vorkrisenzeit zu kompensieren. Und viertens könnte man eine atmende Währungsunion mit Austrittsmöglichkeiten für Länder schaffen, die im Euro zu teuer geworden sind."
Seine Wahl wäre die vierte Möglichkeit, die sei aber an Angela Merkel gescheitert, die eher zur Transferunion neige, wie auch der neue französische Staatschef Emmanuel Macron. Nur der Austritt einzelner Länder könne deren Staatsbankrott vielleicht noch verhindern. So lange Politiker und Bundeskanzler dieses Szenario aber gar nicht erst in Erwägung ziehen, wird Hans-Werner Sinn weiterschreiben und weiterstreiten.
Muss man sich Sinn nun als Optimisten oder als Pessimisten in der derzeitigen Konjunkturlage vorstellen? Im Grunde ist er beides: "Für Deutschland bin ich optimistisch – für Europas Süden nicht."
Das Interview führte Nadine Oberhuber.
Nachzulesen unter www.zeit.de.