Zu Hans-Werner Sinns 70.Geburtstag gibt es ein Fest am Chiemsee.
Auf der Herreninsel im Chiemsee erarbeitete im August des Jahres 1948 auf Weisung der westlichen Alliierten der sogenannte Verfassungskonvent innerhalb von knapp zwei Wochen den Text, der im Frühjahr 1949 zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland werden sollte. Es gehört zum Besten, was die Deutschen unmittelbar nach dem Krieg geschaffen haben. Die Teilnehmer des Konvents, ausnahmslos Herren mit vorzugsweise juristischer Vorbildung, erhielten täglich pro Person einen Liter Bier, eine halbe Flasche Wein, drei Zigarren und zwölf Zigaretten. Womöglich hat neben der idyllischen Lage im See auch diese Basis-Ration zum raschen Erfolg des Konvents beigetragen.
Dass der 70. Geburtstag von Hans-Werner Sinn, dem bekanntesten deutschen Ökonomen der Gegenwart, nicht einfach en passant begangen werden kann, versteht sich von selbst. Seinen Schülern und seinen ehemaligen Mitarbeitern am Ifo-Institut kam die nachgerade genial zu nennende Idee, die Geschichte der Bundesrepublik und das Leben des Meisters in eins fallen zu lassen, damit Nachkriegsgeschichte und Sinn-Geschichte sich sozusagen wechselseitig in einem großen Fest sommerlich elegant aneinander spiegeln konnten. Hat man die Idee einmal gefasst, fügt sich alles andere fast von allein: Im März 1948, dem Geburtsmonat von Hans-Werner Sinn, wurde Ludwig Erhard zum Leiter der Wirtschaftsregierung der britisch-amerikanischen Bi-Zone ernannt. Im Juni, exakt vor 70 Jahren, wurde die D-Mark eingeführt, die Preise wurden freigegeben. Und im August trat besagter Verfassungskonvent zusammen.
Hans-Werner Sinn, geboren am 7. März 1948 im westfälischen Brake, war damals sowohl räumlich wie sozial weit von der Versammlung am Chiemsee entfernt: Der Vater war Lastwagenfahrer, die Mutter arbeitete in einer Fahrradfabrik. Sinn kann als prominentes Beispiel für den Bildungsaufstieg in der Nachkriegszeit dienen: vom Arbeiterkind zum „Rockstar der Ökonomie“, wie ihn sein Schüler Kai Konrad liebevoll nannte. In seiner Autobiographie hat Sinn ausführlich Zeugnis abgelegt: wie er, generationstypisch, bei den „Falken“ links sozialisiert wurde und von den Ökonomen im Studium zur Marktwirtschaft bekehrt wurde. Und wie er nicht nur ein anerkannter Forscher und öffentlicher Intellektueller wurde, sondern, was zuweilen übersehen wird, auch ein erfolgreicher Unternehmer: Das Münchner Ifo-Institut war 1999, als Sinn es übernahm, in einem ziemlich lausigen Zustand. Direktor Sinn hat daraus die „Sinn-Fabrik“ gemacht, eine weltweit respektierte Forschungsinstitution, die zugleich der aktiven und kritischen Politikberatung dienen soll. Kai Konrad nannte Sinn ein ökonomisches „Gesamtkunstwerk“ - ein klein wenig Ironie durfte man in der Anspielung an Richard Wagner ruhig mithören. Sinn hat instinktsicher relevante gesellschaftliche Themen identifiziert und sich mit Monographien stets prominent in die Debatte eingemischt. Das gilt für den „Kaltstart“, das Buch über die falsch gemanagte Wiedervereinigung, genauso wie für seine Monographien zum Klimawandel, zur Finanz- und Euro-Krise oder zur Migration. Sinn hat es sogar geschafft, das sperrige Wort von den „Target-Salden“ zum sprachlichen Gemeingut gebildeter Bürger werden zu lassen.
Eine illuster besetzte Konferenz auf der Insel Frauenchiemsee, Herrenchiemsee benachbart, hat am gestrigen Samstag Sinns intellektuelle Stationen Revue passieren lassen - freilich nicht in historisierender Absicht, sondern um die Relevanz seines OEuvres zu belegen. Wie nahe dies beim Panel „Offene Grenzen und generöser Sozialstaat“ zur Migrationskrise liegen würde, konnte vorher nicht einmal Hans-Werner Sinn ahnen. Er hat es dann aber doch - sein Selbstbewusstsein ist auch mit 70 stabil und gesund - als Wink des Himmels gedeutet, dass der Bayer Horst Seehofer in Berlin das Seine dazu beitrug, der Tagung in Bayern ihre Aktualität zu geben. Ex-Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jügen Papier machte aus seiner Überzeugung keinen Hehl, dass, sollte Seehofer die Abweisung der Flüchtlinge als Innenminister anweisen, er lediglich geltendes Recht durchsetze, woran sich auch dann nichts ändere, wenn die Kanzlerin ihren Minister daraufhin entlassen würde. Zuvor hatte der Freiburger Ökonom Bernd Raffelhüschen deutlich gemacht, dass und warum die Hoffnungen auf eine von den Flüchtlingen dem Land überbrachte „fiskalische Rendite“ verfrüht waren: Integration in ein fremdes Land ist schwierig, Deutsch eine komplizierte Sprache. Die Staatsverschuldung, die diese Lasten für die Bilanz des Gemeinwesens bedeuten, würden verschleiert, meinte Raffelhüschen: „Der Staat bilanziert wie eine Fritten-Bude.“
Hans-Werner Sinn, der Jubilar, nahm sich das ihm liebe Privileg, immer das letzte Wort zu behalten und jede Teildebatte abschließend zu kommentieren. Da wurde dann eine weitere seiner vielen Stärken deutlich, die man journalistische Kompetenz nennen könnte: die Eigenschaft, ökonomische Zusammenhänge ohne Einbußen an Komplexität auf einfache Begriffe zu bringen. Hans-Werner Sinn ist ein genialer Vereinfacher.