„Eine liberale Gesellschaft gibt es nur mit Zäunen“, sagt Deutschlands bekanntester Ökonom. In einem Vortrag erklärt er, was in der Flüchtlingskrise seiner Ansicht nach falsch läuft.
Wenn es nicht gelingt, die Grenzen des Schengenraums effektiv zu kontrollieren, sollte Deutschland das österreichische Vorbild nachmachen und seine nationalen Grenzen kontrollieren. Diese Auffassung hat der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, in einem Vortrag in seinem Münchner Institut an diesem Dienstag geäußert, der per Internetvideo übertragen wurde. Angesichts des hohen Andrangs von Flüchtlingen und Migranten sei es notwendig, die Grenzen des Schengenraums „dicht zu machen“ und gleichzeitig ein einheitliches Asylsystem sowie eine Verteilung der Immigranten über Quoten zu sorgen, sagte Deutschlands bekanntester Ökonom.
Er zeigte sich aber skeptisch, ob eine solche „europäische Lösung“ kommen werde. Die Willkommenskultur sei ein eher auf Deutschland beschränktes Phänomen, andere europäische Länder seien abweisender. Griechenland, über das derzeit die meisten Migranten aus dem Nahen Osten kommen, bezeichnete Sinn als „failed state“ (gescheiterter Staat), in dem wenig funktioniere. Die vielen Inseln in geringer Entfernung zur Türkei seien kaum zu sichern.
Man dürfe sich auch nicht von der Türkei abhängig machen, denn sonst werde man erpressbar. Daher sei es nötig, dass Slowenien die Grenzen des Schengenraums zum Balkan hin effektiv sichere.
Europa muss seine Märkte öffnen
Notfalls müsse aber auch Deutschland zu nationalen Grenzkontrollen zurückkehren, sagte Sinn weiter. Die „Horrorzahlen“ zu angeblichen ökonomischen Verlusten durch Handelsbeeinträchtigungen und Staus glaube er nicht. Es sei möglich, Grenzkontrollen zügig durchzuführen ohne sehr lange Staus. Würden die Zahl der Zöllner verdoppelt, würden die Kosten um 2 Milliarden Euro steigen. Dies sei als Obergrenze der Kosten anzunehmen, so Sinn.
Zuvor hatten einige Wirtschaftsverbände wie der DIHK bis zu zweistellige Milliardensummen als Wohlstandseinbußen im Falle von Grenzkontrollen genannt. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hatte eine Rückkehr zu nationalen Grenzkontrollen in Europa sogar als „wirtschaftliche Katastrophe für den ganzen Kontinent“ bezeichnet.
Als weitere Maßnahmen zu Bewältigung der Flüchtlingskrise nannte Sinn eine verstärkte Entwicklungshilfe vor Ort, damit die wirtschaftlichen Migrationsursachen verringert würden. Zur Entwicklungshilfe sollte vor allem Freihandel gehören, denn Freihandel sei die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Europa dürfe insbesondere seine Agrarmärkte nicht abschotten.
Warum Sinn Talkshows meidet
Die schon hier angekommenen Asylbewerber gelte es schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dazu müssten auch Ausnahmen von Mindestlohn möglich sein. Gleichzeitig müsse aber der weitere Zuzug gestoppt werden.
Mit seinem Vortrag wolle er einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte liefern, sagte der Ifo-Chef. Er habe fast ein Dutzend Einladungen zu Talkshows abgelehnt, weil dort nicht nüchtern über die Probleme diskutieren werden könne und „Ökonomen mit Schlips“ dort als kaltherzig abgetan würden.
Sinn lobte einerseits die Hilfsbereitschaft vieler Deutscher, die ankommenden Asylbewerbern mit Deutschkursen und Behördengängen helfen. Andererseits gebe es hässliche Bilder von abgebrannten Asylbewerberheimen und anderen Sabotageakten. Die deutsche Gesellschaft sei inzwischen gespalten, genauso wie Europa gespalten sei.
Gute Noten vergab er an Spanien, das seine Grenze gegenüber dem Zustrom afrikanischer Migranten rigoros absichere und Ankömmlinge in Booten nach Afrika zurückschicke. Dadurch werden Schlepperfahrten unattraktiv. Durch seinen harten Kurs habe Spanien außerdem die Zahl der Toten drastisch reduziert: Es seien nur noch 100 Menschen im Meer vor Spanien umgekommen. Vor Italien dagegen, das die auf See aufgegriffenen Menschen nach Lampedusa fahre, sei die Zahl der Toten im vergangenen Jahr auf 2900 gestiegen.
In der Gesamtschau der Migrationskrise sei eine Vielzahl politischer, ökonomischer und rechtlicher Fragen zu betrachten. merkte Sinn an: Wirtschaftlich sei klar, dass Deutschland angesichts der starken Alterung und absehbaren Schrumpfung der Gesellschaft auf Zuwanderung – möglichst in den Arbeitsmarkt – angewiesen sei. Bis zum Jahr 2035 werde es in Deutschland 7,3 Millionen mehr Menschen im Rentenalter geben und 8,4 Millionen Erwerbsfähige weniger. Die derzeit ankommenden Immigranten hätten grundsätzlich aus wirtschaftlicher Sicht „das richtige Alter“ von Anfang 20 bis Mitte 30, stellte Sinn fest.
Im vergangenen Jahr habe es eine Nettozuwanderung von schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen gegeben, davon etwas mehr als eine Million Flüchtlinge. Die Entscheidung Ende August 2015, für Syrer die Einzelfallprüfung auszusetzen und sie pauschal nach der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen, habe den Zustrom ziemlich beschleunigt, noch bevor Kanzlerin Merkel wenige Tage später „ihren Willkommensgruß“ ausgesandt habe, sagte Sinn. Die Organisation „Pro Asyl“ habe die neue politische Haltung Deutschlands in den Flüchtlingslagern in der Türkei und im Libanon und Jordanien verbreitet. Dies sei „das Startsignal für die verstärkte Migration“ gewesen.
Schlechte Schuldbildung
Nur 0,7 Prozent der Anträge auf politisches Asyl nach Artikel 16a des Grundgesetzes, die im vergangenen Jahr bearbeitet wurde, seien positiv beschieden worden; rund 48 Prozent der Asylbewerber durften nach der Genfer Konvention temporär bleiben. Die Gesamtschutzquote liege somit bei etwa der Hälfte. Aber auch die andere Hälfte, deren Anträge abgelehnt oder aus anderen Gründen beendet wurden, werde wohl überwiegend bleiben. „Wer drin ist, ist drin“, sagte Sinn. Es sei schwer, „sie wieder loszuwerden“. Viele würden ihre Papiere wegschmeißen und unter neuem Namen einen neuen Asylantrag stellen.
Es sei eine humanitäre Aufgabe, wirklich Verfolgte aufzunehmen, betonte Sinn mehrfach. Er wolle aber auch die von der Kanzlerin und Wirtschaftsverbänden geäußerten Zusatzargumente prüfen, wonach der Flüchtlingszustrom Deutschland überdies wirtschaftlich helfe. Dies bezweifelte Sinn mit einer Reihe von Argumenten, vor allem aber mit Blick auf die geringen Qualifikationen der Asylbewerber: Zwei Drittel der Syrer würden trotz Schulabschluss nur das Pisa-1-Niveau erreichen, laut Umfragen in türkischen Flüchtlingslagern sei es beinahe die Hälfte.
Das bedeute, dass sie kaum lesen, schreiben und rechnen könnten. Damit seien sie für die hochkomplexe deutsche Wirtschaft als Arbeitskräfte kaum zu gebrauchen.
„Die Dinge nicht schönrechnen“
„Das ist das Fundamentalproblem von Immigration aus ökonomischer Sicht“, sagte Sinn: „Kommen die Richtigen?“ Er bezweifelt dies. Nach einem Modellversuch der Handwerkskammer München und Oberbayern hätten 70 Prozent der Migranten, die eine Lehre angefangen hatten, diese vorzeitig abgebrochen. Innerhalb Deutschlands sei mit einem Verdrängungs-Wettbewerb im Niedriglohnsektor zu rechnen. Der Mindestlohn sei eine zusätzliche Hürde für die Beschäftigung von Geringqualifizierten.
Der scheidende Ifo-Chef forderte verstärkte Anstrengungen für die Integration in den Arbeitsmarkt. Dazu gehöre auch, den Mindestlohn vorübergehend auszusetzen sowie staatliche Lohnzuschüsse für 1-Euro-Jobs. Nach den bisherigen Erfahrungen mit früheren Immigrationswellen dauere es sieben Jahre, bis die Hälfte einen Arbeitsplatz gefunden habe. Nach 15 Jahren hätten etwa 70 Prozent einen Arbeitsplatz. Zuvor seien sie eine Belastung für den Sozialstaat.
„Man darf sich die Dinge nicht schönrechnen“, forderte Sinn. Schon die bisherigen Migranten seien wegen einer oft schwachen Qualifikation eine Belastung für die öffentlichen Kassen gewesen. Während der Ausländeranteil in Deutschland 7,3 Prozent beträgt, machten sie 25 Prozent der Sozialhilfeempfänger und 18 Prozent der Hartz IV-Empfänger aus. Sinn betonte, dass die Zuwanderer überwiegend den Staat mehr kosteten als sie an Beiträgen brächten.
Kosten höher als Nutzen
Dazu zitierte er gewaltige Zahlen, die der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen mittels sogenannter Generationenbilanzen errechnet hat. Diese messen, wie viel ein Mensch über ein ganzes Leben an Steuern und Sozialbeiträgen zahlt abzüglich der Sozialtransfers, Renten und der Kosten, die er durch die Nutzung der Infrastruktur verursacht.
Nach dieser Berechnung Raffelhüschens würden 1 Million Flüchtlinge über ihre ganze Lebensdauer den deutschen Sozialstaat netto 450 Milliarden Euro mehr kosten als sie an Beiträgen voraussichtlich leisten könnten. „Je Kopf sind das 450.000 Euro“, sagte Sinn. Und dies gelte nur unter der Annahme, dass die nun ankommenden Flüchtlinge so schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten wie frühere Einwanderer.
Den Staat sieht Sinn dabei als einen „Club“, der bestimmte Clubgüter wie Straßen, andere Infrastruktur, Justiz, Polizei und Schulen zur Verfügung stellt. Der Staat verwalte damit ein kollektives Eigentum, das über Generationen aufgebaut wurde. Es sei legitim und sogar notwendig, dieses Eigentum schützen zu wollen, etwa auch durch Zäune. „Wohldefinierte Eigentumsrechte sind die Voraussetzung für Frieden und Wohlstand“, sagte Sinn: „Grundsätzlich gilt daher, liberale und offene Gesellschaften gibt es nur mit Zäunen und nicht ohne.“ Das hätten viele in Deutschland aber nicht verstanden.
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