Scharfe Kritik des deutschen Ökonomen an der Europäischen Zentralbank.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Euro auf mittlere bis lange Sicht überlebt, schätzt der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn mit «fifty-fifty» ein. Dies sagte er an einer Podiumsdiskussion an der Finanzmesse «Finanz '17» in Zürich. Sinn übte dabei heftige Kritik an der Europäischen Zentralbank (EZB). Die EZB mache schon lange keine Geldpolitik mehr, sie betreibe eine Rettungspolitik für überschuldete Staaten, Banken und Unternehmen. Die Zentralbank versuche, Strukturen aufrechtzuerhalten, die nicht mehr aufrechtzuerhalten seien, sagte der ehemalige Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.
Bei ihren Käufen von Staatsobligationen gehe die EZB sogar deutlich weiter als die US-Notenbank Federal Reserve (Fed), fuhr Sinn fort. So habe die Fed bei ihren Anleihekäufen kein einziges Papier eines Gliedstaats gekauft, obwohl etwa Kalifornien kurz vor der Pleite stehe – und dies, obwohl die USA im Gegensatz zur Euro-Zone ein Bundesstaat sind. In Europa hingegen kündigte EZB-Präsident Mario Draghi in seiner berühmten Rede im Juli 2012 an, alles Notwendige zu tun («whatever it takes»), um den Euro zu retten. Damit waren unter anderem Käufe von Anleihen der kriselnden Peripherie-Länder der Euro-Zone gemeint. Dies sei eine «unglaubliche Macht-Usurpation», bei der die EZB weit über ihr Mandat hinausgehe, sagte Sinn.
Die südeuropäischen Länder in der Euro-Zone seien nicht wettbewerbsfähig. Dort baue sich in der Bevölkerung Frust auf, was sich in verstärktem Zuspruch für radikale Parteien niederschlage, fuhr der Ökonom fort. Sowohl Beppe Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung in Italien als auch der Front national von Marine Le Pen in Frankreich hätten Chancen, kommende wichtige Wahlen zu gewinnen. Für den Fall, dass Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen nicht siegt, erwartet Sinn, dass sich die Entwicklung der EU in Richtung einer Transferunion beschleunigen werde. So setze sich beispielsweise der französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron dafür ein. In einer solchen EU mit stärkeren Finanztransfers entstünde allerdings aus Sinns Sicht «dauerhaftes Siechtum». Wie dies möglicherweise aussehen könnte, sei in Italien zu beobachten, wo der Norden für den Süden zahle, während die Industrie sich dauerhaft im Norden sammle.
Als Folge der ultraexpansiven Geldpolitik nannte Sinn zudem die Inflation der Vermögenspreise. So haben die Preise für Immobilien und Aktien in einigen Ländern in den vergangenen Jahren massiv zugelegt. In Deutschland sei ein Immobilienboom zu beobachten, der mittlerweile Blasen-Charakter habe, sagte Sinn. Die Vermögenspreisinflation erzeuge auch eine stärkere Teuerung bei den Güterpreisen. In Deutschland schiesse die Inflationsrate in die Höhe, in diesem Jahr sei eine Teuerung von deutlich über 2% zu erwarten.
Nachzulesen bei www.nzz.ch