Im Rahmen der Münchner Wirtschaftsgespräche am 11.10. beschäftigte sich Prof. Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des ifo Instituts, mit der Fiskalpolitik der EZB und dem Fortgang der europäischen Integration.
Gespenstische Ruhe
Nach Sinns Auffassung solle man sich nicht von der aktuellen Ruhe täuschen lassen: Die Eurokrise sei nur scheinbar vorbei. Jetzt würden die Weichen für die Zukunft gestellt. Im Brexit sieht er eine regelrechte Katastrophe für Europa. Großbritannien leiste nach Deutschland den zweitgrößten Beitrag zum BIP der EU. Der Wert entspreche dem BIP der 19 (!) kleinsten EU-Länder. Gefahren für den Freihandel gingen nun nicht mehr nur von Trump aus, sondern auch vom Brexit. Für die EU gehörten Personenfreizügigkeit, freier Güterverkehr und freier Kapitalverkehr untrennbar zusammen. Mit dem Argument, dass es keine Rosinenpickerei geben dürfe, plane man bei der EU eine Beschränkung der Importe aus Großbritannien - eine Art Vergeltungsmaßnahme, die weitere Vergeltungsmaßnahmen der Briten nach sich ziehen werde. Dabei sei das EU-Argument ökonomisch falsch. Denn, so Sinn: Freier Güterverkehr, freier Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit sind Substitute, die einander ersetzen können. Gerade wenn die Personenfreizügigkeit beschränkt werde, brauche man mehr Freihandel und nicht weniger.
Dominanter mediterraner Block
Austretende Länder zu bestrafen entspreche der Denke von Umverteilungssystemen. Sinn dagegen stellt sich Europa als eine Veranstaltung vor, wo alle gerne mitmachen, kein Europa, in dem die Angst vor weiteren Austritten regiere. Mit dem Austritt Großbritanniens verlieren die freihandelsorientierten Länder zudem ihre Sperrminorität im Ministerrat. Der mediterrane Block werde dann dominieren. Aus diesem Grund plädiert Sinn dafür, den EU-Vertrag gleichzeitig mit dem Austritt Großbritanniens neu zu verhandeln. Danach werden Veränderungen ungleich schwieriger. Ein weiterer Krisenherd ist Katalonien, wo 90% für einen Austritt aus Spanien gestimmt haben. 16,7% der Katalanen erwirtschaften 20% des spanischen BIP. Es sind die Transfers aus der Region, die zu Spannungen führen. Wer glaubt, man könne die Eurokrise über Transfers lösen, der solle sich sehr genau ansehen, was in Spanien passiert.
Ursache der Eurokrise
Mit der Ausschaltung des Wechselkursrisikos zwischen den Euro-Teilnehmerländern und der Zinskonvergenz waren seinerzeit plötzlich kreditfinanzierte Lohnerhöhungen möglich, die weit über der Produktivität lagen. Dennoch schien der Euro in dieser Phase zu funktionieren. Mit der Lehman-Krise verloren Banken und Anleger dann aber die Lust, weitere Kredite nach Südeuropa zu vergeben. Die erneute künstliche Vergünstigung der Kredite durch die Rettungsmaßnahmen löste ein keynesianisches Strohfeuer beim BIP der betroffenen Länder aus, behinderte dort aber jene Sektoren, die im internationalen Wettbewerb standen - sie blieben zu teuer. Die falschen relativen Güterpreise sind nach Einschätzung Sinns das Kernproblem Europas. Es gehe um das richtige Preisniveau für die gebotene Produktivität und Qualität. Europa habe ausdrücklich kein Konjunkturproblem. Daher bekomme man das Problem auch nicht durch noch mehr Geld in den Griff. Im Gegenteil. Die Wettbewerbsfähigkeit stelle man nur durch den Verzicht auf Geld her. So müsse das Lohnniveau in Griechenland, Spanien und Portugal um ca. 30% sinken, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Weil die Verlockung durch niedrige Zinsen aber viel stärker war als die rechtliche Schranke („gehärteter Stabilitätspakt"), die Angela Merkel glaubte, errichtet zu haben, stieg die Verschuldung weiter an. Bis auf lrland, Malta und Deutschland liegen alle anderen Länder heute noch weiter über der Staatsschuldengrenze von 60% des BIP als am Höhepunkt der Krise im Jahr 2012.
Sonderfall Irland
Dagegen habe Irland seinen Krisenhöhepunkt bereits im Jahr 2006 erreicht. Danach war es das einzige Land, das signifikant intern abgewertet hat. Dieser Prozess endete 2010 mit der Errichtung des ESFS. Davor hatte Irland sehr viel getan, um sich selbst zu helfen. Es gab keine Rettungsaktionen der EZB. Man half sich durch Lohn- und Preissenkungen. Als der Rettungsschirm zur Verfügung stand, hörte man mit den Reformen auf. Die Lebenslügen der Politiker sagen, der irische Erfolg sei das Werk des Rettungsschirms gewesen, tatsächlich war es genau umgekehrt. Man hilft sich nur solange selbst, solange man keine Alternative hat.
Vier trostlose Optionen für die Eurozone
Anschließend skizzierte Sinn vier trostlose Optionen für die Eurozone: 1) Dauerhafte Transferunion a la Macron 2) Deflation in der Peripherie (Austerität), woran die Gesellschaften dort zerbrechen können. 3) Nachinflationierung des Nordens, was der Politik der EZB entspreche, auch wenn dies offiziell nicht zugegeben werde. Bei dieser durchaus rationalen Stra tegie werden die Sparer ihr Geld verlieren. 4) (Temporäre) Austritte aus dem Euro, wodurch die Wettbewer bsfähigkeit aufgrund der Abwertung in Minuten wieder hergestellt würde . Das entspreche dem Plan, den Varoufakis vorbereitet habe und den auch Schäuble wollte. Eine fünfte Option, da dürfe man sich nicht täuschen, gebe es nicht.
Negativrekord
Nicht nur die EZB, die als Erste als Retterin auftrat, auch die nationalen Notenbanken haben die Regeln sehr frei interpretiert und auf lokaler Ebene Geld geschaffen. Dadurch entstand das Schuldverhältnis im Eurosystem, die TARGET2-Schulden, die die privaten Kredite ersetzt haben. Im September 2017 erreichten die deutschen TARGET2-Salden einen neuen Spitzenwert von 879 Mrd. EUR. 83% des bisherigen Rettungsvolumens werden unter diversen Titeln von der EZB verantwortet, die eigentlich Geldpolitik machen soll, tatsächlich aber fiskalische Rettungspolitik betreibt. Lediglich 17% der Volumina wurden von den Parlamenten abgesegnet - ein Demokratieproblem größerer Art, so Sinn.
Wohin steuert Europa?
Es sei kein Zufall, dass der französische Ministerpräsident Macron mit der Vorstellung seines Plans bis nach der deutschen Bundestagswahl gewartet habe. Sein „Europa der zwei Geschwindigkeiten" umfasst sechs Kernvorschläge: 1) Eurobudget mit eigenem Finanzminister, eigener Eurosteuer und Eurobonds. 2) Europäische Asylbehörde als Reaktion auf die Krise. 3) Gemeinsamer Mindestlohn, der vermutlich in der Nähe des französischen Niveaus liegen würde. 4) Gemeinsame Mindestsicherung aus einem europäischen Sozialfonds. 5) Harmonisierte Körperschaftsteuern. 6) Gemeinsame Armee. Macron gehe es darum, die Eurozone zu einer eigenen Staatlichkeit weiterzuentwickeln, was zwar durch Kommunikationsprofis geschickt verkaufe werde, aber nach Sinns Auffassung einer Teilung Europas entspreche. Junckers „Lösung", eine noch weitere Ausdehnung des Euroraums, würde zu einer viel größeren Krise führen, bestehend aus inflationären Kreditblasen und der dauerhaften Finanzierung nicht mehr wettbewerbsfä higer Länder. Das sei der Unterschied zwischen einer kurzfristigen, Finanzkrisen vermeidenden Politik und einer langfristig orientierten.
„Holländische Krankheit“
Der Weg in die Transferunion bringe Südeuropa nämlich die „Holländische Krankheit“. Darunter verstehen Ökonomen jenen Mechanismus, als Holland durch Gasfunde Löhne oberhalb der Produktivität bezahlte, wodurch es sich aus den Märkten für im Wettbewerb stehende Waren herauspreiste. Grundsätzlich gebe es zwei Modelle: eine Schuldensozialisierung nach dem Motto „Wir sind alle Brüder und Schwestern", was aber die Spannungen zwischen Schuldnern und Gläubigern tatsächlich immer weiter verschärfe - ein Fehler, den auch die USA in ihrer Anfangsphase gemacht haben. Die Alternative ist das Haftungsprinzip als marktbasierte ,,Auflaufbremse". Die Angst des Gläubigers vor der Überschuldung seines Schuldners werde zum eigentlich stabilisierenden Element.
Ein anderes Europa
Abschließend skizzierte Sinn ein anderes Europa: Dieses sei durch eine offene Währungsunion gekennzeichnet, aus der ein Land auch wieder austreten könne, wenn es innerhalb der Union nicht zurechtkomme. Zweites Element ist eine Konkursordnung für Staaten, wobei vielleicht die Vorstellung helfe, dass Griechenland alleine im Euro bereits dreimal pleite gewesen ist. Drittens hat die Tilgung der TARGET2-Salden durch die Hergabe gut verzinslicher, pfandbesicherter Wertpapiere zu erfolgen. Dann höre die Selbsthilfe per Druckerpresse in den betroffenen Ländern ganz von selbst auf und es gebe auch wieder Zinsunterschiede. Nur in einem Punkt konnte Sinn dem Plan Macrons etwas abgewinnen: eine europäische Sicherheitspartnerschaft mit einer gemeinsamen Armee.