Konflikte um Freihandelsverträge und der Brexit bieten eine Chance für die Neuordnung Europas, sagt der Top-Ökonom Hans-Werner Sinn.
Die hitzigen Verhandlungen um das Freihandelsabkommen Ceta haben die EU in dieser Woche noch tiefer in die Krise gestürzt. Auch Hans-Werner Sinn, der bekannteste Ökonom hierzulande, macht sich Sorgen um Europa. Für den streitbaren Wissenschaftler sind Brexit und Ceta allerdings keine Bedrohung, sondern eine Chance für Europa – ein Weckruf für die Eliten in Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten. „Die EU kann nicht so weitermachen wie bisher“, sagt Hans-Werner Sinn.
Der ehemalige Präsident des Ifo-Instituts scheint zufrieden. „Europa hat sich zu weit in die falsche Richtung entwickelt, und wenn wir das jetzt korrigieren, mag das zwar zu unangenehmen Diskussionen führen, es ist aber langfristig gut“, sagt Sinn im Gespräch mit der „Welt“. Nach wie vor gebe es keine Alternative zu Europa, zur europäischen Integration und zum friedlichen Zusammenleben der Völker.
Sinn würde damit anfangen, Macht von Brüssel zurück auf die Mitgliedsländer zu verlagern. „Die Zersetzungserscheinungen in der EU sind die Konsequenz einer übertriebenen und fehlgeleiteten Zentralisierung und einer Kompetenzanmaßung der europäischen Institutionen. Diese Übergriffigkeit der EU muss begrenzt werden“, sagt Sinn. Die Briten hätten definitiv das Gefühl gehabt, dass in den EU-Institutionen viele Dinge entschieden werden, die Brüssel gar nichts angingen, und hätten ihre Konsequenzen daraus gezogen. „Warum muss Brüssel denn auch die Trinkwasserqualität vor Ort regulieren?“, fragt der Ökonom. Jetzt ist er in Fahrt: „Oder festlegen, wie viel Strom ein Staubsauger oder ein Geschirrspüler verbrauchen? Warum behindert Brüssel den Import billiger Nahrungsmittel zulasten gerade auch der ärmeren Bevölkerungsschichten? Was soll diese übertriebene Regulierungswut?“
Die Europäische Union ist in seinen Augen zu groß geworden, zu unkontrolliert gewachsen und wurde dabei von Einzelinteressen gekapert, die versuchen, die Union für ihre Ziele zu nutzen. Dazu gehören für Sinn diejenigen Mitglieder, die in der EU vor allem eine Transferunion sähen, insbesondere Frankreich und die mediterranen Länder. Aber der Ökonom kritisiert auch Industrien, die mit schlagkräftigen Lobbys die Institutionen unterwanderten und regelmäßig Regulierungen zu ihren eigenen Gunsten durchsetzten. „Dieser Filz der Einzelinteressen durchzieht die Gremien der EU und missbraucht die gute Sache“, sagt Sinn. „Diese Entwicklung ist zunehmend besorgniserregend, weil sie zulasten der EU-Bürger geht. Ich würde aber niemals dafür plädieren, deswegen die EU abzuschaffen. Stattdessen brauchen wir Reformen in der EU, um ihre Defizite und Fehler zu korrigieren.“
Auf Brüssel setzt Sinn dabei allerdings gar nicht. „Eher bricht die EU auseinander, als dass Brüssel freiwillig Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückgibt. Deshalb liegt es an den nationalen Regierungen und besonders an der deutschen, klarzumachen, dass nicht alles so geht, wie man sich das in Brüssel vorstellt“, sagt der Ökonom. „Die Bundesregierung sollte die Austrittsverhandlungen Großbritanniens zum Anlass nehmen, eine Änderung der EU-Verträge zu verhandeln und dabei so manches, was im Argen liegt, zu korrigieren.“
Und er weist darauf hin, dass Deutschland dank des Brexit mit Leichtigkeit eine Neuverhandlung der Verträge verlangen könne, weil die Bundesrepublik und wirtschaftspolitisch ähnlich denkende Länder durch den Austritt Großbritanniens ihre Sperrminorität im Ministerrat, dem wichtigsten Entscheidungsgremium der EU, verlören. „Deutschland und die anderen freihandelsorientierten Länder des ehemaligen D-Mark-Blocks haben in der EU einen Bevölkerungsanteil von 35 Prozent, der Anteil der mediterranen Länder liegt bei 36 Prozent“, sagt Sinn. „Um beiden Ländergruppen im Ministerrat die Sperrminiorität zu geben, hat man im EU-Vertrag festgelegt, dass eine Entscheidung nicht gegen Länder getroffen werden kann, die zusammen mindestens 35 Prozent der Bevölkerung auf sich vereinen. Diese Balance ist mit dem Brexit dahin; wir haben künftig nur noch einen Stimmenanteil von 25 Prozent, während die mediterranen Länder über 42 Prozent verfügen. Damit können diese Länder jetzt durchregieren. Schon das verlangt eine Änderung des Vertrages, notfalls eine Änderungskündigung aus wichtigem Grunde.“
„Die derzeitige Bundesregierung wird vermutlich nicht die nötige Kraft aufbringen, eine Änderung des EU-Vertrags durchzusetzen und die Fehlentwicklungen in Europa zu korrigieren“, sagt der Spitzenökonom. „Rot-Grün war seinerzeit anders aufgestellt. Schröder hatte damals mehr Mut als Merkel heute. Vieles, was seine Regierung gemacht hat, habe ich kritisch gesehen, aber ehrlicherweise hat Schröder mit der Agenda 2010 gegen viele Widerstände eine strategisch richtige Entscheidung getroffen, von der wir heute alle profitieren.“
Auch die Reaktionen europäischer Politiker auf das Brexit-Votum kritisiert Sinn scharf, insbesondere diejenigen, die laut eine Bestrafung Großbritanniens fordern. Sinn hält diese Strategie für verbohrt. „Es ist falsch, Großbritannien jetzt bestrafen zu wollen. Den Brexit müssen wir als gegeben hinnehmen. Wenn die Briten keine Personenfreizügigkeit wollen, dann ist das zwar schade, aber das bedeutet nicht, dass sie keinen Freihandel haben sollten“, sagt der Ökonom. „Der Freihandel kann Migration teilweise ersetzen und ist gerade dann besonders nützlich, wenn die Migration nicht stattfinden kann. Er liegt im Interesse aller beteiligten Länder, gerade auch Deutschlands, für das Großbritannien der drittwichtigste Absatzmarkt ist.“
Deutschland müsse ein großes Interesse daran haben, Großbritannien einen attraktiven Status am Rande der EU zu verschaffen. Je stärker eine solche Position sei, desto einfacher werde es für Berlin, Reformen der EU durchzusetzen – schließlich habe Deutschland dann immer das Druckmittel als Ultima Ratio, die EU zu verlassen. „Deutschland braucht gar nicht auf die Austrittsoption zu verweisen. Allein deren Existenz schützt bereits vor Ausbeutung bei den schwierigen Abwehrverhandlungen“, glaubt Sinn.
Grundsätzlich müsse die EU im eigenen Interesse fokussierter werden und ihre Mitglieder in ein weniger enges Korsett pressen. „Die EU kann langfristig nur überleben, wenn sie eine Freihandelsgemeinschaft ist, in der sich jeder entfalten und nach seiner Fasson selig werden kann“, sagt Sinn. „Wenn aber alle Mitglieder über einen Kamm geschoren werden und Brüssel die Länder zur Umverteilung zwischen den einzelnen Staaten zwingt, dann entstehen Probleme. Wir wollen die EU nicht mit Zwang zusammenhalten, sondern wir wollen eine attraktive Union, von der jeder etwas hat und deshalb freiwillig dabei bleibt. Die EU darf nicht werden wie die Sowjetunion. Die war ein Zwangssystem, in dem alle durch Druck zusammengehalten wurden, und ist dadurch letztendlich kollabiert.“