Der Starökonom mit den düsteren Prognosen

Daniel Zulauf, Luzerner Zeitung, 20. Mai 2018, S. 9.

Hans-Werner Sinn ist der einzige wirklich populäre Ökonom in unserem Sprachraum. An der Universität Zürich gab er jüngst eine Kostprobe seines Erfolgsrezeptes: Es kann immer noch schlimmer kommen.

„Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“. Was Friedrich Dürrenmatt vor mehr als 50 Jahren als eine Art Regieanweisung zu seiner grotesken Komödie „Die Physiker“ verstand, scheint für den deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn das Erfolgsrezept schlechthin zu sein. Dem 70-jährigen Volkswirt, emeritierten Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und langjährigen Präsidenten des ifo-Instituts eilt der Ruf eines Untergangspropheten voraus. Wenn er Vorträge hält oder in Talkshows am Fernsehen spricht, kommen haufenweise Zahlen zur Sprache. Was bei jedem anderen Referenten ein Quotenkiller wäre, ist bei Hans-Werner Sinn das Gegenteil. Mit gelehrtenhafter Nüchternheit kombiniert er vielen Fakten so, dass sie, übersetzt in eine allgemein verständliche Sprache, eine unheilvolle Zukunft verkünden. Wenn der Mann mit seinem aus der Zeit gefallenen Abrahm-Lincoln-Bart seinen Auftritt hat, weiss jeder im Publikum: Die Lage ist ernst.

Am vergangenen Dienstag war Sinn auf Einladung des Schweizerischen Instituts für Auslandforschung an der Universität Zürich zu hören. Während der Professor sein Thema („Trump, Brexit, Euro-Krise. Was wird aus Europa?“) ausrollte, blieb es in der mit viel Prominenz besetzten Aula mucksmäuschenstill.

Weshalb der Handelsstreit eine logische Folge ist

Der aktuelle transatlantische Handelsstreit, der schon für sich allein genommen ein beträchtliches Schadenpotenzial birgt, ist im Urteil Sinns erst der Anfang eines veritablen „Handelskrieges“, der die Krise der US-Industrie zur Hauptursache hat. Die Amerikaner hätten es nicht geschafft, mit ihrer Industrieproduktion an das Niveau vor der Finanzkrise anzuknüpfen. China und verschiedene Schwellenländer, aber auch Deutschland, seien dagegen wettbewerbsfähiger geworden und hätten die USA weit hinter sich gelassen. Dass sich der von verarmten oder frustrierten Industriearbeitern gewählte Trump nun mit der EU anlegt, ist für Sinn nur logisch, zumal der US-Präsident „in ziemlich vielen Punkten“ das Recht für sich beanspruchen könne. Akribisch zählt der Professor die Zollpositionen auf, bei denen eine klare tarifäre Asymmetrie zum Vorteil der EU und zu Ungunsten der USA besteht. „Europa ist ziemlich protektionistisch aufgestellt, insbesondere im Agrarbereich und mit Verlaub, für Ihr Land gilt dasselbe“. Sinn: „Europa sitzt im Glashaus und tut gut daran, nicht mit Steinen nach Trump zu werfen.“

Es folgen einige Strophen zu Trumps Steuerreform, dem „grössten keynesianischen Konjunkturprogramm aller Zeiten“. Dann kommt Sinn auf den Brexit zu sprechen. Eine „Katastrophe“, die man in der EU offensichtlich nicht wahrhaben wolle. Wieder liefert er die Zahlen: Die 19 kleinsten Länder der EU bringen zusammen wirtschaftlich nicht mehr Gewicht als Grossbritannien auf die Waage. Weit bedrohlicher als der Einschnitt in den Binnenmarkt ist für den Professor aber, dass Europa ohne die Briten zu einer Handelsfestung verkommt, in der sich die nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien Südeuropas und Frankreichs gegen den globalen Wettbewerb verschanzen.

Auch dafür legt er harte Zahlen vor. Die nördlichen EU-Länder, zu denen Sinn nebst Grossbritannien auch Deutschland, die Niederlande oder Österreich zählt, bringen derzeit im europäischen Ministerrat ein Stimmengewicht von 39 Prozent auf die Waage. Die mediterranen Länder einschliesslich Frankreich sind mit 38 Prozent in der Minderheit, besitzen aber eine Sperrminorität. Diese werden sie nach Austritt der Briten auf 43 Prozent ausbauen, während das Gewicht der nach Sinn Freihandels freundlichen, nördlichen Ländergruppe, auf 30 Prozent sinkt. In der Logik des Professors ist der europäische Rückzug in die Handelsfestung also bereits ausgemacht. Dabei hätte die südeuropäische Industrie doch so viel nachzuholen: Ein Schaubild zeigt die Entwicklung der Industrieproduktion in einigen südlichen und in einigen nördlichen EU-Ländern seit der Finanzkrise.

Hüben geht es steil nach unten drüben sportlich hinauf. Nach und nach zieht Sinn die Schlinge um Europa vollständig zu: Die „entgrenzte“ Europäische Zentralbank leitet das Crescendo ein. Eine völlig entgleiste Schuldensituation in der die Bundesbank, die Risiken des europäischen Südens schultert. Und dann, zum Schluss, die Bankenunion, unter der auch noch die die Risiken des morden mediterranen Bankensektors vergemeinschaftet werden soll. Erst mit etwas Abstand kommen die Fragen: Wer ist denn verantwortlich für die hohen Automobil-Einfuhrzölle Europas, wenn nicht Deutschland, der grösste Auto-Exporteur der Welt? Und wie passt dies zu Sinns vermeintlich Freihandels freundlichen nördlichen EU-Ländergruppe? Deutschland sei mit dem Euro zu billig und Südeuropa zu teuer geworden, sagt Sinn selber. Grund zum Klagen hat das Land deshalb nur auf Umwegen unter der Vorwegnahme der schlimmen Szenarien, die Sinn zwar präzis und mit einer scheinbaren Unabänderlichkeit vorträgt. Dass sich die Dinge in der Wirtschaft und in der Politik aber selten so linear entwickeln, wie dies viele Statistiken suggerieren, weiss selbstredend auch der Professor. Doch sein Sendungsbewusssein lässt es offenbar nicht zu, dass er gewisse Verläufe einfach offen lässt.

Ein Bestsellerautor der Sonderklasse

„Kaltstart“, das Buch, das 1991 die ökonomischen Problemen der deutschen Wiedervereinigung benannte und die Politik der Selbstlüge bezichtigt hatte, markierte laut Frankfurter Allgemeine den Anfang des öffentlichen Sinn. Seither verfasste der Gelehrte weitere 13 Bücher. Viele schafften es in die Bestsellerlisten, darunter auch seine Autobiografie, mit der er sich im März, pünktlich zum 70. Geburtstag, selber beschenkte. Viel Furore machte Sinn 2003 mit dem Titel „Ist Deutschland noch zu retten?“. Fünf Jahre nach dem Amtsantritt der Rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder geisselte Sinn die übersetzten Löhne und die verlorene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie, freilich ohne zu bemerken, dass in dieser gerade ein beispielloser Aufschwung einsetzte, der bis heute anhält.

Zwei Jahre später prägte der in einem neue Buch den Begriff der „Basar-Ökonomie“, die Aufbrechung der Wertschöpfungsketten, die das „Made in Germany“ und die statistisch nicht mehr wegzudiskutierenden Exporterfolge Deutschlands als Etikettenschwindel brandmarkten.

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