Süddeutsche Zeitung, 27.02.2016, S. 24.
Euro-Rettungsaktionen und Flüchtlingskrise haben die EU in eine existenzielle Krise gestürzt. Was noch helfen kann: die Gründung einer Verteidigungsgemeinschaft.
Um Europa steht es nicht gut. 65 Jahre nach Beginn der europäischen Integration ist nicht nur die Euphorie verflogen, die damals den Aufbruch zu einem gemeinsamen Europa des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands begleitete. Es ist auch die Fantasie abhandengekommen, in welcher Weise diese EU zum gemeinsamen Vorteil aller weiterentwickelt werden kann. So erschöpft, desillusioniert, zerstritten und ratlos wie heute wirkte die Europapolitik noch nie.
Durch Rettungsaktionen während der Eurokrise ist der europäische common sense als Selbstverständnis und Gemeinsinn des Wie und Wohin überdehnt worden. Die niedrigen Zinsen, die der Euro brachte, hatten Südeuropa in eine inflationäre Kreditblase getrieben. Als diese platzte, blieben überteuerte und nicht mehr wettbewerbsfähige Volkswirtschaften übrig, die von der Europäischen Zentralbank und der Staatengemeinschaft mit gemeinschaftlichen Krediten gerettet wurden. Das hat den privaten Gläubigern die Gelegenheit gegeben, sich aus dem Staub zu machen. Doch die Länder des Nordens, allen voran Deutschland, wurden an ihrer Stelle zu Gläubigern der Staaten Südeuropas, was den natürlichen Streit zwischen Gläubigern und Schuldnern auf die zwischenstaatliche Ebene gehoben hat und dem friedlichen Miteinander letztlich nicht förderlich war.
Nun steht Europa auch noch im Bann der Flüchtlingskrise. Diese Krise fordert Europa als Ganzes. Die faktische Führungsnation in Europa, Deutschland, hat freilich selbst ohne Rückkopplung mit den Partnern gehandelt und ist nun ziemlich isoliert.
Es ist nur allzu verständlich, wenn nun gefragt wird, was Europas Gemeinschaft in die Zukunft tragen könnte. Die nahezu reflexartige, im Zuge der Eurokrise formulierte Position, nun müsse endlich die vertiefte Fiskalunion kommen, überzeugt nicht. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen wird eine Fiskalunion in einer Transferunion münden, die durch die Übertragung von Finanzmitteln nicht nur temporäre Störungen der Wirtschaft ausgleicht, sondern Dauertransfers impliziert. Diese zementieren die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder, weil sie Lebensstandard und Löhne auf einem Niveau halten, das die Ansiedlung wettbewerbsfähiger Firmen verhindert. Der italienische Mezzogiorno ist ein plastisches Beispiel einer solchen Entwicklung.
Zum anderen läuft die Fiskalunion implizit oder explizit auf eine Vergemeinschaftung von Schulden hinaus. Diese hat zur Folge, dass die Kreditwürdigkeit der überschuldeten Staaten künstlich gestützt und der Zins, zu dem sie sich Geld leihen können, künstlich gesenkt wird. Das ruft einen übermächtigen Anreiz hervor, sich noch weiter zu verschulden, dem auch rechtliche Schranken kaum Einhalt gebieten können. Wir halten es für nicht unwahrscheinlich, dass die von französischer Seite gewünschte Fiskalunion in einer massiven und zum Schluss nicht mehr zu bremsenden Verschuldungslawine münden wird. Die Gefahren für das friedliche Zusammenleben der Völker Europas wären immens.
Im Bericht der fünf Präsidenten vom Sommer 2015 liest sich das ganz anders. Die dort geforderte bessere Koordinierung der Sozialsysteme birgt indes nach unserer Einschätzung mehr Sprengstoff als Kitt für die Eurozone. Das gilt ebenso für die Forderung nach einem Euroraum-weiten Schatzamt, das nicht näher spezifizierte Entscheidungen in einer "echten Wirtschafts- und Währungsunion" zu treffen hätte. Ohne europäische Öffentlichkeit und eine damit angelegte "europäische Volkssouveränität" ist das nicht tragbar. Sprengkraft liegt selbst in dem daran gemessen milderen Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Eine solche Versicherung würde die Kosten struktureller Unterschiede ausgleichen und ein opportunistisches, das Kollektiv ausbeutendes, Verhalten hervorbringen.
Die Forderungen der britischen Regierung zielten zu Recht in eine andere Richtung. Es wäre überhaupt nicht überzeugend, wenn sich Deutschland nun im Schulterschluss mit Frankreich auf noch mehr Kollektivierungsaktionen einließe. Eine solche Politik würde eine zerstörerische Wirkung für das europäische Gemeinschaftsprojekt entfalten, zumal auch viele Länder im östlichen Teil Mitteleuropas eher die britische Position teilen. Wer die fiskalische Integration mit Frankreich und Südeuropa ohne die Integration Osteuropas betreibt, zieht einen tiefen Graben quer durch Mitteleuropa. Der Graben würde Deutschland gerade von jenen Ländern trennen, mit denen es kulturell seit jeher auf das Engste verbunden ist.
Was kann in Europa gelingen, wenn man diese Gefahren bedenkt? Vorrangig ist es, die Funktionslücken der EU zu schließen, die durch die Flüchtlingskrise sichtbar wurden. Die Außengrenzen des Schengen-Raums werden nicht effektiv geschützt, eine Beteiligung der Binnenstaaten an der Bewältigung eines Flüchtlingszustroms ist nicht geregelt, eine Strategie zu Bekämpfung von Fluchtursachen fehlt und ein Konzept zur Flüchtlingsunterstützung nahe den Krisenherden ebenso.
Der Binnenmarkt und die vier Grundfreiheiten wurden eingeführt, als der Druck zur Klärung dieser Fragen nicht bestand. Nun aber ist offensichtlich, dass ein Staat Grenzen braucht, um den Erhalt des sozialstaatlichen Versicherungsschutzes im weiteren Sinn sowie um den Schutz des Eigentums der Staatsbürger an den nationalen öffentlichen Gütern zu gewährleisten. Ein Staat braucht Grenzen, um den Erhalt des sozialstaatlichen Versicherungsschutzes im weiteren Sinn sowie den Schutz des Eigentums der Staatsbürger an den nationalen öffentlichen Gütern zu gewährleisten. Ein für jeden freier Zugang ist ebenso wenig mit einer freiheitlich marktwirtschaftlichen Ordnung kompatibel wie es der freie Zugang zu privaten Grundstücken wäre. Indes müssen die Grenzen für den freien und fairen Tausch von Gütern und Arbeitsleistungen offen sein. Erst wohldefinierte Eigentumsrechte ermöglichen einen solchen Tausch.
Europa ist über die Schaffung des freien Marktes hinausgegangen, indem es den Schengen-Raum schuf, innerhalb dessen sogar auf Grenzkontrollen verzichtet wurde. Dies geschah in der Erwartung, dass einerseits das Zivil- und Arbeitsrecht einen hinreichenden Schutz für den freien Tausch von Gütern und menschlicher Arbeitsleistung ermöglichen würde und dass es andererseits nicht zu einem Missbrauch der nationalen Klubgüter und der sozialstaatlichen Versicherungssysteme kommen würde. Das Schengen-Abkommen ist in der Flüchtlingskrise indes unter die Räder gekommen, weil die Grenzstaaten des Schengen-Raums die von außen kommenden Menschen gar nicht erst registrierten, wie es ihre Aufgabe war, sondern sie einfach durchreisen ließen, um sich auf diese Weise ihrer nach dem Dublin-III-Abkommen bestehenden Pflicht, die Flüchtlinge zu versorgen, entziehen zu können. Weder Griechenland, eine Schengen-Enklave, noch Italien und Slowenien, die heute die hauptsächlichen Eintrittstore zum zentraleuropäischen Schengen-Raum bilden, sind ihrer Aufgabe nachgekommen. Sie konnten es angesichts der fehlenden Quotenregelung für eine Weiterverteilung im Schengen-Raum auch nicht.
Das muss sofort und vorrangig geändert werden, indem an den Grenzen Italiens und Sloweniens Aufnahmelager errichtet werden, in denen die zentraleuropäischen Schengen-Länder nach einem einheitlichen Recht und auf der Basis eines symmetrischen Quotensystems Asylverfahren durchführen und auch nach einheitlichen Kriterien Einreiseerlaubnisse für Wirtschaftsflüchtlinge gewähren. Offenkundig nicht asylberechtigte und nicht hinreichend qualifizierte Personen können dort sofort zurückgewiesen werden. Dass man ähnliches bereits in Griechenland schaffen wird, wagen wir angesichts der zerklüfteten Grenze mit Tausenden Inseln zu bezweifeln. Auch halten wir es nicht für zielführend, sich vom Wohlwollen der Türkei abhängig machen zu wollen. Als temporäre Notlösung, und um die Verhandlungsbereitschaft anderer Länder zu stärken, können wir uns auch stärkere Kontrollen und eine Kontingentierung an der deutschen Grenze vorstellen.
Mittelfristig noch wichtiger ist die Schaffung einer umfassenden europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Angesichts der militärischen Krisenherde im Umfeld Europas halten wir es für einen unerträglichen Anachronismus, dass die 28 Staaten der EU über 25 separate Armeen mit eigenen Generalstäben verfügen, auch wenn sie durch die Nato notdürftig zusammengebunden sind. Diese Zersplitterung ist nicht nur kostentreibend und ineffizient, weil parallele Waffensysteme unterhalten werden müssen, sie ist auch gefährlich, weil die fehlende Kompatibilität der Ausrüstungen und die fehlende gemeinsame Kommandostruktur die Einsatzfähigkeit im Ernstfall massiv behindern würden.
Bevor sich die Staaten der Eurozone immer weiter in einer finanziellen Haftungsunion verstricken, sollten sich die Staaten des Schengen-Raums oder der Eurozone zu einer solchen europäischen Verteidigungsgemeinschaft zusammenschließen. Mit gemeinsamen Strukturen und einem Oberkommando würde eine neue, tragfähige Säule der europäischen Zusammenarbeit begründet, die der politischen Union eine solide Basis gibt und eine ordnungspolitische Logik hat. Die Westeuropäische Union, die als Ersatz für die 1954 gescheiterte Europäische Verteidigungsgemeinschaft gegründet, als Stärkung der GASP 2000 in die europäischen Verträge integriert, doch schließlich 2011 als eigenständige Organisation abgewickelt wurde, kann dabei als Anknüpfungspunkt dienen.
Bisher ist die Teilnahme an der "Ständigen strukturierten Zusammenarbeit" (Art. 42 EU-Vertrag) freiwillig, gebunden an Kriterien der Verteidigungsfähigkeit. Man sollte sie vertraglich begründen und weiter vertiefen bis hin zu einer gemeinsamen Armee. Ein solches für jeden erkennbares europäisches Solidaritätsversprechen, wie es ähnlich auch am Anfang der USA oder der Schweiz stand, würde die europäische Integration nachhaltig stärken. Endlich würde damit die Integration des Kontinents vom Kopf auf die Füße gestellt.
Die Verteidigungsunion würde ein gemeinsames, durch Mitgliedsbeiträge finanziertes Budget benötigen, das nun tatsächlich einmal für die Schaffung eines echten öffentlichen Gutes für Gesamteuropa eingesetzt würde. Die gemeinsame Finanzierung der Flüchtlingspolitik ließe sich ebenfalls in einem solchen Rahmen organisieren. Europa sollte seine Kraft wieder aus einem gemeinsamen Projekt schöpfen, das auf kohärente Interessen der Mitgliedsstaaten stoßen dürfte. Auf Dauer erträgt die Europäische Union keine Spaltung in eine Koalition der Willigen und eine der Unwilligen. Betroffen vom Scheitern der Willigen sind am Ende auch die Unwilligen. Es gibt eine Alternative.
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