Am liebsten Biologie. Ökonomie war zweite Wahl

Die deutsche Ökonomie verdankt Hans-Werner Sinn seit Jahren pointierte Analysen - das ist nicht selbstverständlich, denn eigentlich wollte er Biologie studieren. Auszüge aus seiner neuen Autobiographie.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche Online, 20. Februar 2018.

Im März wird der Ökonom Hans-Werner Sinn 70. Am 21. Februar erscheint im Verlag Herder seine Autobiographie „Auf der Suche nach der Wahrheit“. Lesen Sie hier einige Auszüge aus dem Kapitel „Wie ich zum Volkswirt wurde“ über seine Entscheidung, Ökonom zu werden, seine Frau Gerlinde Sinn und sein Faible für ägyptische Musik.

(...) Dass ich mich freilich überhaupt der Ökonomie zuwenden sollte, war bei näherer Betrachtung nicht selbstverständlich. Denn nach dem Abitur wusste ich keineswegs sofort, was ich studieren sollte. Ich hegte schon eine große Vorliebe für die Naturwissenschaft, die am Helmholtz-Gymnasium in Bielefeld hervorragend unterrichtet wurde. Der Physikunterricht mit seinen praktischen Experimenten und theoretischen Erklärungen, der von Johannes Kenter angeboten wurde, faszinierte mich. Aber noch mehr hatte es mir die Biologie angetan.

Sowohl mein Biologielehrer Werner Schramm als auch ein Referendar, der ihm zugeteilt worden und frisch von der Universität gekommen war, boten einen aufrüttelnden und wissenschaftlich hochstehenden Unterricht, der insbesondere auch die Evolutionstheorie und die molekulare Genetik in vollem Detail präsentierte. Und dies, obwohl die zugrunde liegenden Forschungsergebnisse von Francis Crick und James Watson damals ganz frisch waren. Lange erwog ich deshalb, Biologie zu studieren.

Das Problem war allerdings, dass ich kein wirklich spannendes Berufsbild damit verbinden konnte, und Biologielehrer wie Schramm wollte ich nicht werden. Wer weiß: Hätte ich damals auch nur geahnt, welchen dramatischen Fortschritt die Biologie im Allgemeinen und die Genforschung im Besonderen seit jener Zeit machen würde, ich hätte mich vermutlich für das Biologiestudium entschieden. Und hätte es keine zeitliche Rivalität zwischen den Fächern gegeben, hätte ich eigentlich sogar gerne mehrere zugleich studiert, in jedem Fall Ökonomie und Biologie nebeneinander.

So aber folgte ich „nur“ meiner zweiten Präferenz und wandte mich den Wirtschaftswissenschaften zu, weil ich die gesellschaftlichen Probleme, die sie analysierte, auch vor dem Hintergrund unseres exzellenten Deutsch und Geschichtslehrers Jürgen Schettler als drängend und wichtig ansah. (…)

Die Biologie blieb aber mein Steckenpferd, und parallel zu meinem VWL-Studium habe ich so allerlei an evolutionsbiologischer Literatur gelesen, von Theodosius Dobzhansky über John Maynard Smith und Edward O. Wilson bis hin zu Richard Dawkins und anderen mehr. Und in gewisser Weise hat mich die Biologie auch als Ökonom nie ganz verlassen, denn im Rahmen meiner Forschungen habe ich mich immer wieder mal auch biologischen Sachverhalten zugewandt, um zu schauen, wie sie für ökonomische Erkenntnisse nutzbar gemacht werden können. (…)

Ich hatte im Übrigen auch erwogen, Soziologie, Politologie oder Betriebswirtschaftslehre (BWL) zu studieren. Doch die Soziologie und die Politologie schienen mir zu ideologielastig, und die BWL war mir von den mich interessierenden gesellschaftspolitischen Fragen zu fern. Die BWL bot zwar schon zu jener Zeit besonders attraktive Karrierechancen. Aber ich wollte nach einer wissenschaftlichen Gymnasialausbildung, die mich in ihren Bann gezogen hatte, keine Kompromisse machen und bloß des Geldes wegen in dieses Fach wechseln. Nicht dass mir Geld unwichtig war. Angesichts meiner Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen konnte ich diesen Aspekt nicht vernachlässigen und fühlte mich auch insofern bei einem wirtschaftsnahen Fach besser aufgehoben. Aber die Präferenz für das Geld ging auch wiederum nicht weit genug, um bloß deswegen BWL zu studieren. Obwohl ich wusste, dass ich als Volkswirt weniger Berufsoptionen haben würde als ein Betriebswirt, einfach weil es weniger Völker als Betriebe gibt, entschied ich mich für die Volkswirtschaftslehre. Bis heute habe ich diese Entscheidung nicht bereut. (...)

Das Studium der Volkswirtschaftslehre begann ich zum Wintersemester 1967/68 an der Universität Münster, Westfalen, denn das war für einen Braker, der am Wochenende nach Hause zurückmusste, um im elterlichen Betrieb zu helfen, die günstigste Möglichkeit.

Ich erinnere mich noch an die langen, bis auf den Hof reichenden Schlangen vor dem Münsteraner Schloss, in die man sich einreihen und stundenlang warten musste, um sich dann immatrikulieren zu können. Ich mietete ein Zimmer, das so klein war, dass ich darin nicht mehr stehen konnte, wenn mein Klappbett heruntergefahren war. Trotzdem war ich glücklich damit, denn endlich hatte ich meine eigene „Bude“.

Das Studium ging ich mit großem Elan an. Ich begeisterte mich zunächst insbesondere für die Statistik, wie sie uns von Josef Bleymüller im neuen Hörsaalgebäude mithilfe modernster Overhead-Technik präsentiert wurde. (…)

Alles in allem habe ich das Studium als faszinierende Reise in eine mir bis dahin völlig unbekannte, freie und offene Welt erlebt – eine Reise, die ein immer klarer werdendes Licht auf die vielen verwirrenden Eindrücke des Lebens warf, die mir als jungem Menschen begegneten. Kein Zweifel, im Verlauf dieser Reise entstanden Ordnung und Transparenz, Klarheit und Logik, Nachvollziehbarkeit und Erkenntnis.

All dies begeisterte mich. Denn es zeigten sich faszinierende Denkgebäude vor meinem geistigen Auge. Sie boten Großräumigkeit und Freiheit, sie boten Flure, die ich gerne weiterging, sie boten Treppen zu Türmen, die ich hinaufeilte, um von oben in die Ferne zu schauen, sie boten Kreuzgänge, die zur Besinnung einluden, aber auch Bilder und Klänge evozierten, die berauschten und süchtig machten. Mein Studium verwandelte mich – intellektuell wie auch emotional. (...)

Denn noch mehr als das Studium zog mich Gerlinde Zoubek in ihren Bann, eine von vielleicht drei Frauen unter rund 100 Studenten der VWL in Münster. Heute sind die Studenten dieses Fachs etwa zur Hälfte männlich und zur Hälfte weiblich. Damals gab es fast nur junge Männer, und da galt es sich zu beeilen, wenn man bei einem der Mädchen landen wollte. Die zunächst zwanglosen Kontakte, die sich mit Gerlinde ergaben, wurden alsbald durch eine Einladung zum selbst gemachten Essen ergänzt, und dann kam eins zum anderen.

Vor 50 Jahren also fanden wir uns – und haben uns seither nicht mehr losgelassen. 1970 verlobten wir uns und bereits im November 1971 heirateten wir, also noch während des Studiums. Die Eltern meiner Frau waren nicht so euphorisch wie ich – oder wie wir –, aber am Ende stellten sie sich nicht in den Weg. Ich war damals 23 und meine Frau 22 Jahre alt.

Einen nicht unwichtigen Anlass für die Entscheidung, so früh zu heiraten, gab ein Erlebnis bei einer Maklerin, bei der wir nach einer gemeinsamen Wohnung suchten. Als sie erfuhr, dass wir Studenten der Volkswirtschaft waren, erklärte sie uns, dass ihr Verlobter BWL studieren würde, sie ihn aber nicht ehelichen wollte, bevor er sein Diplom hatte, damit sie sicher sein konnte, keine Fehlentscheidung zu treffen.

Eine solche, aus unserer Sicht auch ökonomisch motivierte Einstellung zu Liebe und Hochzeit fanden wir geradezu empörend. Von ihr wollten wir uns unbedingt abgrenzen, und so gingen wir zum Standesamt, bevor wir wussten, wie das Examen ausgehen würde. Noch während des Studiums zu heiraten gilt nicht nur heute, sondern galt vor allem damals als extrem ungewöhnlich.

Und so wurde unsere Entscheidung auch von manchen unserer Kommilitonen und Freunde mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert. Für meine Frau war die Umstellung besonders gewöhnungsbedürftig, weil sich die Professoren über den neuen Namen wunderten. Sie hieß nun Gerlinde Sinn. Aber als sie den Grund erfuhren, gratulierten sie artig. Wir bezogen eine kleine Wohnung, etwa so groß wie jene, die meine Eltern besessen hatten, als ich ein Kind war. Ein Zimmer diente uns abwechselnd als Küche und Schlafzimmer, und ein rollbarer Tisch, den ich dazu gebastelt hatte, half beim Umbau, je nachdem, ob wir den Raum zum Kochen oder zum Schlafen nutzen wollten. Unsere Kommilitonen beneideten uns damals sehr um unseren Quelle-Geschirrspüler. Ich war es, der auf seiner Anschaffung bestanden hatte, um das bis dahin allzu oft durchlittene Elend überquellender Berge schmutzigen Geschirrs in der Wohngemeinschaft, in der ich bis dahin mit einem anderen Studenten gelebt hatte, gar nicht erst aufkommen zu lassen.

(…) Seit unserem gemeinsamen Studium bis heute ist sie zudem eine meiner wichtigsten intellektuellen Sparringspartner. Sie begleitet meine Forschungsarbeiten und Bücher kritisch und unterstützend zugleich. Und wenn es wieder einmal eine Attacke gegen den angeblich marktradikalen Ehemann gibt, ist sie es, mit der ich mich zuerst beratschlage, was zu tun ist.

Auf unseren vielen, nicht zuletzt beruflich notwendig gewordenen Reisen ist es zudem sie, die immer wieder kommunikative Tore öffnet, auch mir. Das gelingt ihr durch ihre direkte und freundliche Art und weil sie nicht nur ein exzellentes Englisch spricht, sondern auch recht gut französisch und italienisch. Seit einigen Jahren lernt sie nun auch Tschechisch.

Es gibt wenige Menschen, die ich so bewundere wie sie. Nein, es gibt keine. Gerlinde ist die Liebe meines Lebens.

(...) Nachdem ich das erste Semester in meinem nur klappbettgroßen Zimmer gewohnt hatte, kam mir das Angebot eines Kommilitonen gerade recht, mit ihm eine Wohngemeinschaft zu bilden. Der Kommilitone hieß Mohammed Ortani. Er war Palästinenser, zehn Jahre älter als ich und in Deutschland bereits gut integriert. Seine Familie hatte man aus dem heute in Israel liegenden Jaffa nach Amman in Jordanien vertrieben. Er war zum Studium nach Münster gekommen und hatte eine Deutsche geheiratet, die nach der Geburt des ersten Kindes zurück zu ihren Eltern ins Sauerland zog, denn sie war berufstätig und brauchte, während sie arbeitete, die Eltern zur Beaufsichtigung des Kindes.

An manchen Wochenenden besuchte sie Mohammed oder er fuhr zu ihr. Da sie aber in der Woche nicht bei Mohammad sein konnte und ich samstags und sonntags und in den Semesterferien zu Hause bei meinem Vater arbeitete, bot es sich an, dass ich Mohammeds Untermieter wurde. Für mich stellte jenes eine Jahr, in welchem ich in der WG mit ihm lebte, nicht nur eine deutliche räumliche Verbesserung dar, sondern es war auch eine in jeder Hinsicht lebhafte Erfahrung. Anfangs studierten wir noch recht ernsthaft und verbrachten viel Zeit mit dem Nacharbeiten der Vorlesungen. Fast schien es mir, als hätte Mohammed, der erhebliche Schwierigkeiten bei den Klausuren hatte, einen Tutor bei sich einstellen wollen, und dieser Tutor sollte nun ich sein. Doch unser Elan fand bald andere Ziele.

Wir diskutierten nämlich ausführlich und ausdauernd über Politik. Wir studierten ja genau zu jener Zeit, als sich die 68er-Bewegung formte und aktiv war, auch im damals sehr verträumten Münster. Besonders der Sechstagekrieg vom Juni 1967 zwischen Israel auf der einen Seite und Ägypten, Jordanien und Syrien auf der anderen Seite wurde oft zum Gegenstand unserer Gespräche. Er war zwar im Prinzip beendet, aber das Thema ließ Mohammed nicht los. Und das war mehr als verständlich, denn dieser Krieg verschob die geopolitischen Kräfte in der Region einschneidend und bis zum heutigen Tag, weil Israel in ihm die Sinai-Halbinsel, den Gazastreifen, Ostjerusalem, das Westjordanland und die Golan-Höhen eroberte und diese Gebiete fortan kontrollierte. (…)

Oft, wenn die Stimmung melancholisch war, hörten wir Umm Kulthum, jene ägyptische Sängerin, die Mohammed so mochte. Wir lauschten ihr stundenlang und mithilfe aller Platten, derer er habhaft werden konnte. Anfangs ließ mich ihre Musik kalt, doch mit der Zeit fand ich großen Gefallen an ihr, an diesen langen und scheinbar eintönigen, in Wahrheit jedoch kunstvoll geschwungenen Vokalen und an der variablen, bisweilen dramatisch anmutenden Rhythmik, die das Maqam, das arabische Tonsystem, auszeichnen.

Heute bin ich wie elektrisiert, wenn ich orientalische Musik höre, und kann mich manchmal gar nicht mehr lösen, so faszinierend finde ich sie. Wenn Umm Kulthums Gesänge durch unser Haus schallen, sucht meine Frau zwar das Weite, ich aber gebe mich ihr voll und ganz hin.

Gegen Abend drehte Mohammed meist erst so richtig auf, nicht nur mit Blick auf die Musik. Denn wenn sich Mitternacht näherte, fing er an zu kochen und zauberte wundervolle Gerichte. Hummus in jedweder Form, etwa als gestampfter Brei oder als im Fett ausgebackene Kügelchen; auch länglich gerollte Hackfleischbällchen mit Bergen von gehackter Petersilie darin; dazu klebrige, sehr klebrige Süßspeisen, wie man sie heute aus türkischen Läden kennt; die Liste seiner Kunstwerke aus der Küche war lang.

Besonders imponiert hat mir Mohammeds Lammfleisch-Gulasch. Es wurde in einem hohen Topf geschmort, bis es fast weich war. Dann legte man Klebereis darauf und einen ganzen umgestülpten Blumenkohl, der wieder mit etwas Reis gefüllt wurde. Mit ausreichend Wasser gegart entstand so eine feste Masse, die man umstülpte und die so zu einer Art Kuchen mit einer Gulaschschicht auf der Oberseite wurde. Ein überaus "köstlicher" Kuchen, dem ich nie wiederstehen konnte. Am besten schmeckte er, wenn man heißen Tee bester Qualität dazu trank, wenn möglich mit frischen Pfefferminzblättern.

So lernte ich die palästinensisch-orientalische Küche auf eine Weise schätzen, wie es schöner nicht sein konnte. Als ich später, gegen Ende der 1990er-Jahre, Gastprofessor an der Hebräischen Universität in Jerusalem war, fand ich in der gut geführten Kantine, die den Fakultätsmitgliedern zur Verfügung stand, viele jener wunderbaren Gerichte wieder, die mir Mohammed damals kredenzt hatte. Ein großer Unterschied zwischen der israelischen und der palästinensischen Küche ist mir dabei nicht aufgefallen.

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