Er hält im AWO-Kinder- und Jugendhaus einen Vortrag über die Weltwirtschaft - pointiert und zahlenbasiert.
Was für eine seltsame Fügung - zumindest auf den ersten Blick: Hans-Werner Sinn, prominenter Ökonom, lange Jahre Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Buchautor und wegen seiner Kompetenz und pointierten Aussagen gefragter Analyst für Medien, hält am verregneten Samstagnachmittag einen Vortrag in einem unscheinbaren Gebäude am Rande von Bielefeld: im AWO-Kinder- und Jugendhaus in Brake. Auf den zweiten Blick jedoch ergibt das Sinn.
„Wir haben ihn schon oft angefragt“, sagt Gerd Wäschebach vom Veranstalter „brake.kulturell“. Denn Sinn ist in Brake geboren und aufgewachsen. Seine Kindheit und Jugend ist ihm in guter Erinnerung. „Ich bin immer noch Braker“, sagt er, der vor mehr als 50 Jahren wegzog und sich seitdem vor allem mit der Weltwirtschaft beschäftigt. Aber die Zeit in Brake war prägend, „obwohl es damals nur die Kirche und die Falken gab, die Angebote gemacht haben“, erinnert sich der 70-Jährige. Sinn war mit den Falken unterwegs, Zeltlager in Frankreich zum Beispiel. „Es war wunderbar“, sagt er.
Sinn kennt noch viele Braker, mit denen er viel Zeit in seiner Jugend verbracht hat, Günther Rixe etwa, der natürlich auch gekommen ist zu dem Vortrag. Rixe, früher Bundestagsabgeordneter der SPD, war einer von gut 200 Zuhörern im AWO-Haus.
„Er besucht in Brake seine Cousine“
Dass „brake.kulturell“ es endlich geschafft hatte, den alten Braker mit Expertenruf zu engagieren, hatte auch familiäre Gründe. „Er besucht seine Cousine“, erklärt Wäschebach, „und hat sich für uns zwei Stunden Zeit für den Vortrag genommen“.
Am Ende wurden es deutlich mehr als zwei Stunden mit dem Publikum. Gewohnt zahlenbasiert umriss der Volkswirt die Zusammenhänge der Weltwirtschaft mit besonderem Blick auf Deutschland, Brexit, Trump, Europa und die EU sowie Italien im Speziellen. Quintessenz seiner Erkenntnisse sind: Die nächste Euro-Krise steht an, hat eigentlich schon begonnen - oder besser gesagt nie aufgehört; eine Haftungsunion à la Macron wird kommen, gepaart mit einer weiteren politischen Radikalisierung in Europa; eine Weltschuldenkrise droht durch die konjunkturanheizende Politik in den USA durch den amerikanischen Präsidenten. All jenen, denen seine Analysen zu pessimistisch sind, hat Sinn vorab gewarnt und eine Einordnungshilfe gegeben: „Ich bin Volkswirt und rede über die Verfehlungen in der Wirtschaftspolitik wie ein Arzt über Krankheiten.“ Das klinge vielleicht pessimistisch, dabei sei er aber ein Optimist, wie er versichert.
Tatsächlich aber erzeugen die fachlichen Ausführungen des früheren Leiters des ifo-Instituts mit Sitz in München Besorgnis. Zwar boomen die deutschsprachigen Länder - Deutschland, Österreich, Schweiz - in einem nie gekannten Maße, aber drumherum geht ziemlich viel schief. Dem Brexit kann Sinn überhaupt nichts positives abgewinnen. Der Verlust Großbritanniens sei für Deutschland doppelt schlecht: zum einen geht ein bedeutender Handelspartner, der die Märkte durch seine Weltperspektive freigehalten hätte für die Exportnation, zum anderen verlieren die eher solide wirtschaftenden Nordländer der EU mit wettbewerbsfähiger Industrie deutlich an Gewicht.
„Das Machtgefüge der EU ändert sich dramatisch“
„Das Machtgefüge in der EU ändert sich damit dramatisch“, sagt Sinn. Die südlichen Länder inklusive Frankreich, deren Industrien durch die Euro-Einführung kaum noch wettbewerbsfähig seien, gewönnen stark an Einfluss.
Sie seien aber nur überlebensfähig durch zwei Möglichkeiten: eine Transferunion, bei der die funktionierenden Industrienationen sie alimentieren, oder durch einen Euro-Austritt. Sinn vermutet, dass die EU die erste Variante wählen wird, „was auch bedeutet, dass die südlichen Länder wirtschaftlich nie wieder auf einen grünen Zweig kommen werden“.
Besonders kritisch sei die Lage in Italien, sagt er. „Seit Einführung des Euro sind dort ein Viertel der Industriebetriebe verschwunden, die Neugründungen schon eingerechnet.“ Die wirtschaftlichen Fehlkonstruktionen in der EU seien auch ein Grund für die politische Radikalisierung, sagt er. Hinzu komme nun ein amerikanischer Präsident, der am Wohlergehen des alten Kontinents kaum Interesse habe und seine Politik strikt auf den Vorteil für die USA ausrichte.
Wie lange sich die Politik noch durchwurschteln könne, weiß auch Sinn nicht. Spätestens aber wenn die so genannten Babyboomer mit dem Jahrgang 1964 an der Spitze in Rente gehen, werde es ganz eng.
So sieht Hans-Werner Sinn die Entwicklungen. Der Ökonom kann seine Analyse gut begründen. Er hat zahlreiche Daten gesammelt, die sie unterfüttern. Was er sagt, ergibt Sinn - mindestens aus ökonomischer Sicht.
Nachzulesen auf www.nw.de.
Zum Vortrag „Die Bedeutung des Brexit für Deutschland und Europa“