Die Amtszeit Mario Draghis bei der EZB ist durchzogen von Unwahrheiten und Regelbrüchen. Ginge es bei der Verleihung des Verdienstkreuzes um die Wahrhaftigkeit des Geehrten statt politische Zweckmäßigkeit, hätte es statt seiner jemand anderes verdient.
„Was ist Wahrheit?“, fragte Pilatus und entschied sich dafür, sie aus der Staatsräson abzuleiten. Doch kann laut Joseph Ratzinger weder der einzelne Mensch noch der Staat Wahrheit selbst schaffen. Der Mensch sei einer gegebenen Wahrheit verpflichtet, die sein Gewissen leite. Andreas Georgiou ist ein gewissenhafter Statistiker.
Als Präsident der griechischen Statistikbehörde deckte er die Fälschung der Zahlen auf, mit der sich die griechische Regierung den Zugang zur Europäischen Währungsunion erschlich und die europäischen Behörden und Finanzmärkte über Jahre hinters Licht führte. Im Jahr 2015 wurde Georgiou von der griechischen Regierung wegen der Aufdeckung der Fälschung aus dem Amt gedrängt, von der Justiz verfolgt und 2018 wegen „übler Nachrede“ zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Anfang 2018 schlug ich vor, Andreas Georgiou für seine Wahrhaftigkeit das Bundesverdienstkreuz zu verleihen. Am 22. Februar 2018 erhielt ich von dem dafür zuständigen Auswärtigen Amt einen Brief, in dem stand, dass für die Verleihung dieses Ordens strenge Maßstäbe angelegt würden, die Georgiou nicht erfülle.
Kürzlich wurde nun der Orden wohl auf Vorschlag von Außenminister Heiko Maas an Mario Draghi, den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, vergeben. Draghi ist zweifellos ein ehrenwerter Mann. Aber der Orden wurde ihm als Vertreter einer Institution verliehen, die Wahrhaftigkeit immer wieder politischer Zweckmäßigkeit untergeordnet hat. Dafür gibt es viele Beispiele.
Schon die erste wichtige Personalentscheidung, die Berufung des EZB-Präsidenten, begann 1998 mit einer Unwahrheit. Laut Europavertrag dauert die Amtszeit des Präsidenten acht Jahre. Hinter den Kulissen gab jedoch Wim Duisenberg dem Druck des französischen Präsidenten nach und erklärte sich bereit, seinen Platz nach der Hälfte der Amtszeit für einen französischen Kandidaten frei zu machen. Bis heute breiten die Verantwortlichen den Mantel des Schweigens über diese Vertragsverletzung.
Im Mai 2010 bewahrte die EZB unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Trichet Griechenland und andere Eurostaaten vor der Zahlungsunfähigkeit, indem sie im sogenannten Securities Markets Programme Anleihen dieser Länder aufkaufte. Dies widersprach zumindest dem Sinn des Vertrags, was die EZB nie zugab. Weniger diplomatisch war die damalige französische Finanzministerin und heutige EZB-Präsidentin Lagarde, die Ende 2010 freimütig bekannte, man habe natürlich alle Regeln gebrochen, um den Euro zu retten.
Im Jahr 2011 deckte Hans-Werner Sinn, der damalige Präsident des Ifo-Instituts, auf, wie über das Interbankenzahlungssystem „Target 2“ durch die EZB verdeckt Zahlungsbilanzungleichgewichte zwischen den Euroländern finanziert und dadurch die Bepreisung von Risiken durch den Markt unterdrückt wurde. Bis heute vernebeln die EZB und ihr nahestehende Volkswirte die Bedeutung dieses Systems für die Umverteilung von Risiken unter den Eurostaaten.
„Whatever it takes“
Im Jahr 2012 sicherte EZB-Präsident Mario Draghi dann den Fortbestand des Euro, indem er versprach, alles zu tun, um die Währungsunion zu erhalten. Er stellte dies unter den Vorbehalt der Einhaltung des Mandats für Preisstabilität, aber da der Europäische Gerichtshof der EZB weitestgehend freistellte, wie sie dieses Mandat verfolgen kann, durchbrach auch er mit den aus dem Versprechen folgenden Ankaufprogrammen für Staatsanleihen den Sinn des Vertrags, der monetäre Staatsfinanzierung verbietet.
Im Jahr 2015 deckte der damalige Doktorand Daniel Hoffmann ein Geheimabkommen der EZB mit ihren nationalen Zentralbanken auf, das diesen erlaubte, über Käufe von Staatsanleihen ihre Staaten zu finanzieren. Besonders die französische und italienische Zentralbank nutzten das ANFA genannte Abkommen, um ihren Staaten Finanzierungshilfe zu leisten. EZB-Präsident Draghi wehrte ab und meinte lediglich dazu, diese Käufe seien für die EZB „oft sehr schwer zu verstehen“.
Wo Wahrheit von einer Gesellschaft oder deren Teile selbst erschaffen wird, werden die Protagonisten zu „politischen Moralisten“ (Hermann Lübbe), die anderen ihre Wahrheit aufzwingen wollen. Statt sachlich wird „ad personam“ argumentiert. So sagte Draghi über die Kritiker an „Target 2“: „Die Leute, die es kappen, kollateralisieren, begrenzen wollen – die Wahrheit ist, dass sie den Euro nicht mögen.“
Und die frisch ernannte EZB-Direktorin Isabel Schnabel appellierte an deutsche Ökonomen: „Bitte helfen Sie, die schädlichen und falschen Darstellungen über die Geldpolitik der EZB zu vertreiben, die in politischen und in Medienzirkeln unterwegs sind. Diese bedrohen den Euro mehr als viele andere Dinge.“ Wohlbegründete Kritik sei dennoch wichtig. Aber wer entscheidet, was „wohlbegründet“ ist? Laut Umfragen der Europäischen Kommission trauen nur noch 42 Prozent der Befragten der EZB.
Draghi statt Georgiou. Für mich hat diese Entscheidung eine über die Personen hinausgehende Bedeutung: Maßstab für eine Ehrung durch den deutschen Staat ist die politische Zweckmäßigkeit statt der Wahrhaftigkeit des Geehrten.
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