Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Dezember 2019, S. 17.
Nach Jahren steigender Targetsalden, kam es im Oktober 2019 zu einem Rückgang der Salden, der fast schon wie eine Trendwende aussah. Allein die Targetforderung der Bundesbank, die im Vormonat noch bei 915 Mrd. Euro gelegen hatte, fiel um 78 Mrd. Euro auf 837 Mrd. Euro. Dieser Einbruch wurde zwar im November durch einen neuerlichen Anstieg auf 871 Mrd. Euro teilweise kompensiert, es bleibt aber ein beachtlicher Rückgang.
Manche Kommentatoren haben in der Wende ein Zeichen für die Normalisierung der Lage auf den Finanzmärkten gesehen. Es sei „ein Schlag gegen alle Eurokritiker und Crash-Propheten“ las man im Internet und ähnlich auch in Zeitungsberichten dazu. Diese Einschätzung ist ziemlich schief, wenn nicht falsch.
Das ist sie schon deshalb, weil sie implizit die Crash-Gefahr mit den Targetsalden gleichsetzt. Tatsächlich schützt aber das Targetsystem die Wirtschaft vor einer plötzlichen Flucht privater Kapitalanleger und hilft, den Crash zu vermeiden. Die öffentlichen Kredite des Eurosystems, die durch die Targetsalden gemessen werden, treten ja im Notfall an die Stelle wegbrechender privater Kredite und vermeiden so mögliche Konkurse.
Das Problem der Targetsalden liegt wahrlich nicht in der Crashgefahr, sondern im Kreditrisiko, das sie für Deutschland bedeuten. Die Güter, Aktien, Firmen, Immobilien und Forderungstitel, die im Austausch für die Targetforderungen der Bundesbank in ausländisches Eigentum übergingen bzw. erloschen, sind weg, und ob dafür jemals wieder gleichwertige Gegenleistungen erbracht werden, steht in den Sternen. Das Kreditrisiko besteht nicht nur beim Austritt von Ländern aus der Eurozone, sondern, was häufig übersehen wird, auch beim Konkurs eines Staates mitsamt des lokalen Bankensystems.
Es kommt hinzu, dass die Targetkredite die Demokratie untergraben, Deutschland erpressbar machen, erhebliche Verteilungswirkungen haben und die Wachstumskräfte schwächen. Erstens werden nämlich die Steuerzahler der anderen Euroländer ungefragt und ohne die Beteiligung ihrer Parlamente in die Haftung für die Kreditrisiken genommen. Hätte man das Eurosystem auf der Basis privater Zahlungssysteme aufgebaut, was der Maastrichter Vertrag zuließ, hätten die Risiken bei privaten Investoren gelegen. Zweitens bedeuten die Targetrisiken ein Drohpotenzial der Länder mit Targetschulden, mit dem sie eine Transferunion und eine gemeinsame Einlagensicherung der Banken erzwingen können. Drittens senkt der kostenlose Versicherungsschutz der Steuerzahler die Risikoprämien, zu denen sich überschuldete Länder weiter verschulden können. Das provoziert noch mehr Verschuldung und beraubt die kapitalexportierenden Länder eines Teils ihrer Kapitalerträge auf Auslandsinvestitionen. Viertens schützt der Target-Kredit nicht nur gesunde Banken, Firmen und Staaten vor einer möglichen Irrationalität der Märkte, sondern ermöglicht es auch maroden Staaten und Zombie-Firmen, die vom Schuldentropf nicht mehr loskommen, die notwendigen Reformen zur eigenen Gesundung zu unterlassen.
Falsch ist auch die Einschätzung, der Rückgang der Targetsalden zeige eine „Normalisierung“ der Lage an den Finanzmärkten an. Tatsächlich ist der Rückgang das Ergebnis der Strafzinsen auf die Einlagen der Banken bei der jeweiligen nationalen Notenbank. Er resultiert nicht aus einem wachsenden Marktvertrauen, sondern aus einer mit drakonischen Mitteln vom EZB-Rat vorgenommenen Umlenkung von privatem Kapital in die Krisenländer der Eurozone.
Mit Beschluss des EZB-Rates vom September 2019 wurde der Strafzins für die Einlagen der Banken auf 0,5% festgelegt, und gleichzeitig wurde ein riesiger Freibetrag für die Überschussliquidität der Banken (über die Mindestreserve) in Höhe des Sechsfachen der Mindestreserve eingeführt. Die Summe der Freibeträge entspricht ungefähr der Hälfte der gesamten Überschussliquidität des Eurosystems, also etwa 900 Milliarden Euro.
Wäre die Überschussliquidität gleichmäßig über alle Länder erteilt, hätten die Strafzinsen keine Effekte auf die Targetsalden. Das jedoch ist nicht der Fall. Vielmehr sorgte die extreme Ungleichmäßigkeit bei der Verteilung der Liquidität im Euroraum, die selbst durch die Targetsalden gemessen und ermöglicht wurde, für gegenseitig vorteilhafte Arbitragegeschäfte zwischen den Banken Europas, die diese Salden wieder verringert haben. Wegen dieser Ungleichverteilung gab es es in den mediterranen Krisenländern der Eurozone erhebliche, nicht ausgenutzte Freibeträge an Überschussliquidität, die zinsfrei befüllt werden konnten,während die deutschen Banken riesige Überschüsse an Liquidität über die Freibeträge hinaus hielten, für die sie Strafzinsen zahlen mussten. Durch den Verleih von Teilen dieser Überschüsse nach Südeuropa zu einem Zins, der irgendwo zwischen minus 0,5% und 0 lag, konnten sowohl die deutschen Banken als auch die südeuropäischen Banken einen Gewinn erzielen: erstere, weil sie dauerhaft weniger Strafzinsen zahlen müssen, letztere weil sie Refinanzierungskredite, die sie für null Prozent bei ihrer Notenbank bezogen hatten, mit Krediten zurückzahlen dürfen, die ihnen die deutschen Banken notgedrungen zu negativen Zinsen gaben. Der auf diese Weise fast schon erzwungene Verleih des Geldes nach Südeuropa verringert die deutschen Targetsalden, weil damit die Summe der Nettoüberweisungen nach Deutschland, die durch den deutschen Targetsaldo gemessen wird, fällt.
Wie weit die Umschichtungsaktionen zur Vermeidung der Strafzinsen noch gehen, wird man sehen müssen. Sicherlich werden sie in Deutschland nicht zur vollständigen Eliminierung der Liquiditätsüberschüsse über die Freibeträge führen, weil dann auch im Süden Strafzinsen fällig würden. Irgendwann erschöpft sich der Effekt. Das bedeutet freilich nicht, wie man vielleicht meinen könnte, dass die Targetsalden dann nicht weiter fallen können, denn die verbleibenden Einnahmen der Bundesbank aus den von den deutschen Banken gezahlten Strafzinsen werden im Eurosystem vergemeinschaftet und den südlichen Notenbanken im Targetsystem gutgeschrieben. Die deutsche Targetforderung fällt wegen der Weiterleitung der Strafzinsen an andere Notenbanken des Eurosystems, und die Targetschulden der Krisenländer fallen auch. Ähnlich, wie es zwischen den privaten Partnern eines Kreditkontraktes der Fall ist, führen auflaufende negative Zinsen zur Verminderung von Forderungen und Verbindlichkeiten gleichermaßen.
Die zinsbedingte Verminderung der Targetsalden ist natürlich nur ein langfristig dominanter Effekt, der kurzfristig nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Er könnte in Zukunft wieder durch die neuen Wertpapierkäufe überlagert werden, die jetzt beschlossen wurden. Doch was immer im Einzelnen geschieht: Es dürfte aus ökonomischer Sicht schwerlich möglich sein, den Rückgang der Salden, der durch die negativen Zinsen und die Freibeträge verursacht wurde und wird, in irgendeinem Sinne als Normalisierung der Kapitalmärkte oder gar als Beruhigungspille für deutscher Anleger und Steuerzahler zu interpretieren.
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