Als Oskar Lafontaine im Juli 2005 in einer groß aufgemachten Sondersendung der ARD gefragt wurde, ob er nicht auch glaube, daß Deutschland wegen seiner hohen Lohnkosten Schwierigkeiten habe, mit der Globalisierung zurechtzukommen, antwortete er, ein solches Problem könne er nicht erkennen, solange Deutschland Exportweltmeister sei. Die Exporterfolge bewiesen, daß die Lohnkosten kleiner als die Wertschöpfung seien, und deshalb müsse die Ursache für Deutschlands Problem anderswo liegen.
Lafontaines Antwort ist symptomatisch, denn man hört sie nicht nur von der neuen Linken. Sie ist das Standardargument derer, die marktwirtschaftliche Reformen ablehnen und sie als neoliberalen Versuch interpretieren, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Deutschen ihre mühsam erstrittenen sozialen Errungenschaften wieder abspenstig zu machen.
Dennoch ist die Antwort falsch. Warum sie falsch ist, ist freilich auch den liberaleren Kräften des Landes, die die Reformen wollen, nicht klar. Deutschland hat ein Erkenntnisproblem. Die Globalisierung macht vielen Angst, aber dennoch scheinen die Exportdaten zu belegen, daß wir mit der Globalisierung prächtig zurechtkommen. Die Deutschen sind verwirrt, und diese Verwirrung ist verständlich. Beim Export sind wir immer noch sehr stark, auch wenn wir die Weltmarktanteile von einst nicht verteidigen konnten. Andererseits haben wir eine miserable Wachstumsperformance. Unter allen EU-Ländern ist Deutschland in den letzten zehn Jahren am langsamsten gewachsen.
Viele sehen den Boom der Exporte als Beleg für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft samt ihrer Arbeitnehmer und führen die Wachstumsschwäche auf eine "fehlende Binnennachfrage" oder eine "schwache Binnenkonjunktur" zurück, die sie nicht durch außenwirtschaftliche Kräfte verursacht sehen. Mit seinem Gutachten "Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland" macht sich der als "Die fünf Wirtschaftsweisen" bekannte Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zum Protagonisten dieser Sichtweise. Manche, freilich nicht die Mehrheit des Rates, fordern sogar staatliche Maßnahmen zur Stützung der Binnenkonjunktur.
Dieses Buch entwickelt eine andere Sicht der Dinge. Exportboom und innere Wachstumsschwäche sind keine getrennten Ereignisse, sondern ökonomisch eng zusammenpassende Teile eines Entwicklungsprozesses, bei dem sich die Wettbewerbsfähigkeit der Firmen und die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer voneinander loslösen, weil letztere den Sozialstaat, erstere aber Niedriglöhner aus aller Welt als Option vor Augen haben. Viele deutsche Firmen, die dem Standort treu bleiben, werden zwischen der Konkurrenz des deutschen Sozialstaats auf dem Arbeitsmarkt und der Niedriglohnkonkurrenz auf den internationalen Absatzmärkten zerrieben. Doch wer clever ist, überlebt, indem er sich auf die kapitalintensiven Endstufen der Produktion spezialisiert und vorgelagerte Teile seiner Wertschöpfungskette in Niedriglohnländer verlagert. Dies ist es, was ich als Basar-Effekt bezeichne. Oder er kann zumindest sein Kapital retten, indem er Ersatzinvestitionen in arbeitsintensive Produktionsprozesse unterläßt und sich statt dessen in den kapitalintensiven Exportsektoren engagiert, wo die Lohnkosten eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Beides führt zu hohen Exporten. Doch es entsteht immer mehr Arbeitslosigkeit mit offenkundigen Konsequenzen für das wirtschaftliche Wachstum.
Der Exportboom könnte eine Art Supernova sein, die dem Sterben des Sterns vorausgeht. Mit meiner Theorie des pathologischen Booms der exportinduzierten Wertschöpfung, der durch das hohe deutsche Lohnniveau getrieben ist, versuche ich, einen Beitrag zur Lösung des deutschen Rätsels zu bieten. Das zentrale Problem ist und bleibt das Niveau der deutschen Lohnkosten, so unangenehm es allen Beteiligten ist und so groß der Bogen ist, den erfolgreiche Politiker um dieses Thema machen müssen. Kaum jemand will das Problem wahrhaben. Die Bürger verdrängen es und greifen deshalb nur allzugern nach dem Strohhalm, den populistische Politiker bieten. Kein Wunder, daß die Bewahrer des alten Sozialstaats soviel Zulauf finden und daß der Applaus um so größer ist, je platter die Argumente sind.
Absonderlich ist es freilich, daß gerade die Linken glauben, die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus ließen sich durch Wunschdenken überwinden. Das hat Marx stets von sich gewiesen, und genau deshalb wollte er ja die Revolution. Linke Politiker und Journalisten fabulieren vom Primat der Politik und halten die politische Macht für stärker als die ökonomischen Gesetze, nach denen die Integration der Weltwirtschaft vonstatten geht. Aber die Erfahrung bietet für eine solche Hoffnung kaum eine Basis. Wenn ein Land sich gegen die internationale Lohnkonkurrenz stemmt, indem es Löhne verteidigt, die nicht mehr marktgerecht sind, erzeugt es zwangsläufig immer mehr Arbeitslosigkeit und macht die Lage für die Arbeitnehmer eher noch schlimmer.
In dieser schwierigen Lage ist es wichtig, daß die Politik die Zeichen der Zeit richtig interpretiert, denn nur dann ist sie in der Lage, sinnvoll zu reagieren und das Land für den verschärften internationalen Wettbewerb, den wir Globalisierung nennen, fit zu machen. Gute Politik setzt Erkenntnis voraus, und deshalb muß sie sich mit der Lösung des deutschen Rätsels befassen. Das deutsche Sonderproblem liegt in der mangelnden Kapazitätsausweitung und der fehlenden Bereitschaft der Unternehmen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es ist einzig und allein ein Standortproblem. Ob es sich lohnt, an einem Standort zu investieren, wird durch die Qualität des Standorts und seine Kosten bestimmt. (...) Letztlich bleiben nur die nationalen Löhne und die nationalen Steuern als standortrelevante Kosten übrig. Unter den Kosten für die Firmen sind sie es allein, die die Standortentscheidungen und mit ihnen die Entwicklung der Produktionskapazität und Beschäftigung wirklich bestimmen.
Das ist ein ganz zentraler Punkt, den viele Nichtökonomen nicht verstehen. Weil sie den Einzelbetrieb im Blick haben, wo die Lohnkosten im Vergleich zu den Kosten der Vorprodukte gering sind, übersehen sie, daß die Vorproduktkosten selbst im wesentlichen Lohnkosten auf vorgelagerten Produktionsstufen sind. Dieses Erkenntnisdefizit erklärt, wieso Volkswirte die Öffentlichkeit mit dem Lohnkostenthema immer wieder von neuem nerven und nicht bereit sind, sich bei der Diskussion um Deutschlands Probleme auf die vielen "Nebenkriegsschauplätze" führen zu lassen, die von Medien und Politik eröffnet werden.
Mit einem Wert von 27,60 Euro sind die westdeutschen Stundenlohnkosten praktisch gleichauf mit Dänemark, wo 28,14 Euro gezahlt werden, und Norwegen, wo sie 27,31 Euro betragen, die höchsten der Welt. Dies ist ein wichtiges Indiz bei der Beurteilung der Lohnkostenfrage. Es half wenig, daß die Gewerkschaften in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre bei den Lohnsteigerungen etwas vorsichtiger waren als früher. Dreißig Jahre aggressiver Lohnpolitik können nicht durch fünf bescheidenere Jahre kompensiert werden. Schließlich ist es ja nicht die jährliche Steigerung der Löhne, sondern ihr Niveau selbst, welches über die Arbeitsplätze entscheidet.
Natürlich können die Arbeiter der deutschen Firmen teurer sein als ihre ausländischen Konkurrenten, wenn sie entsprechend besser sind. Doch ob die deutschen Arbeiter noch soviel besser sind, wie sie teurer sind, ist die Frage.
Die deutschen Unternehmensleiter bezweifeln das jedenfalls vehement. Ihnen zufolge sind die Arbeitnehmer in den anderen Ländern mindestens ebenso motiviert und fleißig wie die deutschen, denn die alten Tugenden der deutschen Arbeiter haben sich im Laufe der Wohlstandsentwicklung eher verflüchtigt.