Dokumentation

zu dem von Hans-Werner Sinn im Rahmen eines Interviews im Tagesspiegel am 27. Oktober 2008 angestellten Vergleich zwischen Managergehältern von heute und der Judenkritik 1929

Hans-Werner Sinn hat am 27. Oktober 2008 im Tagesspiegel die These vertreten, dass die Manager im Jahr 2008 in ähnlicher Weise kritisiert wurden wie die Juden im Jahr 1929. Beiden habe man in der Öffentlichkeit die Wirtschaftskrise in die Schuhe geschoben, weil man Sündenböcke suchte. Daraus wurde in den Medien der Vorwurf gemacht, Sinn habe die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten mit der Managerkritik verglichen. Fest steht aber, dass Sinn sich explizit auf einen Zeitpunkt bezog, zu dem die Nationalsozialisten noch gar nicht an der Macht waren, geschweige denn auf einen Zeitpunkt, zu dem die Juden in Deutschland verfolgt wurden. Dennoch hat sich Sinn noch am Tag der Veröffentlichung des Interviews im Tagesspiegel beim Zentralrat der Juden entschuldigt, nachdem ihm der Generalsekretär des Rates, Stephan J. Kramer, vorgeworfen hatte, „Vergleiche mit Juden zu wählen, um sich unter die Opfer einreihen zu können“. Danach wurde Sinn von vielen, zum Teil jüdischen Kollegen aus dem In- und Ausland in Schutz genommen. Hier finden Sie die Dokumentation des Interviews, des Entschuldigungsbriefes und einiger Reaktionen von Kollegen und anderen Persönlichkeiten, so z.B. von Prof. Dr. Dr. h.c. theol. habil. Richard Schröder (Mitglied des nationalen Ethikrates). Der Tagesspiegel hatte es abgelehnt, den entlastenden Leserbrief von Prof. Schröder, der der Zeitung unmittelbar nach der Veröffentlichung zugegangen war, zu drucken.

Auszüge des Interviews mit Hans-Werner Sinn im Tagesspiegel, 27. Oktober 2008

Tagesspiegel: Die Manager als Opfer?

Sinn: In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise von 1929 wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben. Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager. Als Volkswirt sehe ich stattdessen falsche Anreize und fehlende Regeln. Schauen Sie sich den Straßenverkehr in Indien an. Die Leute fahren links, rechts, auf dem Bürgersteig, das ist abenteuerlich. Der Verkehr kommt deswegen immer wieder ins Stocken. Sind daran die "Manager" an den Steuerrädern schuld oder fehlende Verkehrsregeln?

(...)

Tagesspiegel: War der Banken-Rettungsplan der deutschen Regierung tatsächlich alternativlos?

Sinn: Hätte man nichts getan, wie 1929, wären die Folgen dramatisch gewesen: eine Kernschmelze im Finanzsystem, Massenarbeitslosigkeit, die Radikalisierung der westlichen Welt, am Ende eine Systemkrise der Marktwirtschaft. Die deutsche Geschichte ist hier ja ganz klar. Der Nationalsozialismus ist aus der Krise zwischen 1929 und 1931 entstanden. Auch heute stehen Rattenfänger wieder parat.

Brief von Hans-Werner Sinn an Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, vom 27. Oktober 2008:

Frau Charlotte Knobloch

Präsidentin

Zentralrat der Juden in Deutschland

St.-Jakobs-Platz 18

80331 München

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

liebe Frau Knobloch,

ich bedauere es sehr, dass sich die jüdische Gemeinschaft durch meine Äußerungen im Tagesspiegel vom 27. Oktober 2008 verletzt fühlt. Ich habe das Schicksal der Juden nach 1933 in keiner Weise mit der heutigen Situation der Manager vergleichen wollen. Ein solcher Vergleich wäre absurd. Mir ging es allein darum, Verständnis dafür zu wecken, dass die wirklichen Ursachen weltwirtschaftlicher Krisen Systemfehler sind, die aufgedeckt und beseitigt werden müssen. Die Suche nach vermeintlichen Schuldigen führt stets in die Irre.

Die tiefe persönliche Freundschaft mit vielen jüdischen Kollegen auf dieser Welt und meine Scham und mein Entsetzen gegenüber dem, was den Juden von Deutschen angetan wurde, haben mein Leben geprägt. Sie sind unveränderbar. Ich bitte die jüdische Gemeinde um Entschuldigung und nehme den Vergleich zurück.

Mit freundlichem Gruß

Hans-Werner Sinn

Brief des Nobelpreisträgers Prof. Robert Solow, Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge:

31 December 2008

Dear Hans-Werner,

I knew nothing of the Tagesspiegel incident until I read the packet of information you sent to me. Apparently the American media did not pick up the story; at least Bobby and I did not see anything in the New York Times. I wish I had known about it earlier, because I would have welcomed an opportunity to defend you against this nonsensical criticism.

But maybe it is better this way, because I would also have wanted to attack the Zentralrat der Juden in Deutschland and apparently also the Simon Wiesenthal Center in Paris for what strikes me as disgraceful behavior. To take a simple, true, relevant and innocent statement and convert it into an “issue” is inexcusable. They owe you (and everyone) an apology, not vice-versa.

There is some truth to Peggy Musgrave's suspicions about popular opinion in the US (Lehman Brothers, Goldman Sachs, etc). The Madoff scandal further blows on the spark, though in fact the Madoff affair is irrelevant. It had nothing to do with the larger financial crisis; Madoff is just a swindler who happens to be Jewish, and so are most of his victims!

I hope this foolishness blows over quickly. Meanwhile we wish a happy New Year to you and Gerlinde.

As ever yours,

Bob

(Robert Solow)

Email von Prof. Assaf Razin, University Tel Aviv:

Dear all,

The comments Hans-Werner made to a newspaper on the current crisis have been sadly misconstrued. I have known Hans-Werner for about two decades as a person of great integrity. I was deeply touched when, during my 60th birthday at Tel Aviv, Hans-Werner spoke about the Nazi horrors to us Jews. As we say in Hebrew Hans-Werner is Chaver Shelanu Letamid (our friend forever).

Bye, Assaf

E-Mail und Artikel von Prof. Dr. Dr. h.c. theol. habil. Richard Schröder, Mitglied des nationalen Ethikrates:

27. Oktober 2008

Sehr geehrter Herr Sinn,

Sie brauchen sich wirklich nicht zu entschuldigen.

Mit freundlichem Gruß,

Richard Schröder

Artikelangebot an den Tagesspiegel vom 27. Oktober 2008, von der Redaktion abgelehnt:

Richard Schröder

Die Aufregung über Hans-Werner Sinns Interview in dieser Zeitung kann ich überhaupt nicht verstehen. Ich stimme seinen angegriffenen Darlegungen vollständig zu. „In jeder Krise wird nach Schuldigen gesucht, nach Sündenböcken. Auch in der Weltwirtschaftskrise wollte niemand an einen anonymen Systemfehler glauben.“ „Der Nationalsozialismus ist aus der Krise zwischen 1929 und 1931 entstanden. Auch heute stehen Rattenfänger bereit.“ Das sind historisch zutreffende Feststellungen. Die Nazis haben für jene Krise das „jüdische Finanzkapital“ verantwortlich gemacht mittels des Konstrukts einer jüdischen Weltverschwörung. Diese wiederum haben sie mit einer kollektiven Abartigkeit „des Juden“ erklärt, der geizig, geldgierig und herzlos sei. Seltsamerweise findet sich dieses Klischee auch bei Karl Marx (Zur Judenfrage). Sie haben dabei alte Vorurteile gegenüber „den Juden“ geschickt mit dem Unbehagen an „dem Kapitalismus“ kombiniert. Hans-Werner Sinn erinnert hier bloß an ein allgemein anerkanntes Element des modernen Antisemitismus.

Sündenbocktheorien, die sich tatsächlich in jeder Krise einstellen, sind dadurch charakterisiert, dass sie ein imaginäres Kollektiv beschuldigen und diesem kollektive Abartigkeit oder Bosheit unterstellen.

Vor langer, langer Zeit wurde Christen die Rolle des kollektiven Sündenbocks aufgedrückt. „Wenn der Tiber anschwillt bis zu den Stadtmauern, wenn der Nil nicht anschwillt über die Äcker, wenn der Himmel steht, wenn die Erde sich bewegt, wenn Hunger, wenn Seuche, sofort heißt es: werft die Christen den Löwen vor“ (Tertullian). Das haben die Christen später ganz vergessen und ihrerseits „die Juden“ zwar nicht für Überschwemmungen, aber für wirtschaftliche Not und für die Pest verantwortlich gemacht.

Sündenbocktheorien dieser Art habe ich in der DDR reichlich erlebt. Diesmal war der Kapitalismus und der Klassenfeind für alle Probleme verantwortlich. Als Anfang der 50er Jahre die Kartoffelkäferplage ausbrach, wurde ernsthaft behauptet, die Amerikaner würden mit Flugzeugen die Kartoffelkäfer über unsere sozialistischen Äcker abwerfen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten, die die DDR von Anfang an begleiteten, wurden mit westlicher Sabotage erklärt und viele sind deshalb in den Gefängnissen verschwunden.

Aber wir heute sind doch aufgeklärt und vor solchen Primitivismen gefeit. Irrtum. Unendlich oft habe ich in den letzten Wochen gelesen, die Ursache der Finanzkrise sei die „Gier“ namentlich der Manager, über deren horrende Einkommen sich die Öffentlichkeit fast einmütig empört, obwohl die horrenden Einkommen von Tenören, Filmstars und Fußballstars niemanden empören. Mit dem Argument „Gier“ für ein ganzes Kollektiv (Manager) wird aber tatsächlich die atavistische Sündenbocklogik benutzt. Die Krise wird auf eine moralische oder sittliche Abartigkeit zurückgeführt. Geldgierig übrigens sind wohl die meisten von uns. Sonst würde nicht so viel Lotto gespielt, obwohl doch dokumentiert ist, dass nicht wenige Lottomillionäre mit ihren Millionen ins Unglück laufen. Millionär sein ohne sich zu ruinieren will nämlich auch gelernt sein.

Hans-Werner Sinn hat einen Beitrag zur Aufklärung geleistet, wenn er gegen solche moralisierenden Sündenbocktheorien auf „anonyme Systemfehler“ verweist. Die sind nämlich, einmal erkannt, reparierbar, während die zu Sündenböcken Erklärten eigentlich vernichtet oder doch wenigstens, wie der Bundespräsidentschaftskandidat der Linke sich wünscht, verhaftet werden müssen. Er sage, was die Menschen denken, kommentieren manche aus der Linken diesen Blödsinn. Dann müssen aber „die Menschen“ noch einiges dazulernen.

Die Systemfehler, die Sinn benennt sind: das Eigenkapital der Banken ist zu niedrig, das hat maßlose Risiken ermöglicht und die Verantwortung reduziert. Er vergleicht das mit fehlenden Verkehrsregeln. Er spricht damit etwas aus, das, soweit ich das beurteilen kann, unter den Fachleuten unumstritten ist. Menschen lernen, scheint mir, nur aus Katastrophen, allerdings nur dann, wenn sie sie nicht auf Abartigkeit und sittliches Versagen zurückführen, sondern auf einen Mangel an vernünftigen Regeln.

Informationen des ifo Instituts über Prof. Hans-Werner Sinns Interview im „Tagesspiegel“ und die Reaktionen aus der Wissenschaft (Download PDF, 1.55 KB)

Diese Dokumentation enthält das vollständige Interview, den Entschuldigungsbrief sowie die beim ifo Institut eingegangenen und zur Veröffentlichung freigegebenen Stellungnahmen aus der Wissenschaft.

Artikel in der "Financial Times"

"Economist's comments anger Jews", FT.com, 28. Oktober 2008 (PDF, 18 KB).