Die Einsicht kommt spät: In der Krise erinnern sich die deutschen Gewerkschaften plötzlich der Mitarbeiterbeteiligung. Die IG Metall etwa will in einer Reihe von kriselnden Unternehmen bei einem möglichen Lohnverzicht der Belegschaft im Gegenzug eine Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer durchsetzen. Dabei hatten die Gewerkschaften derartige Modelle eigentlich schon in den Sechzigerjahren zugunsten der Mitbestimmung verworfen. Damals waren die Unternehmen nicht bereit, Mitbestimmung und Mitbeteiligung zugleich zu gewähren, weil die Gewerkschaften die Mitbeteiligung über zentrale, von ihnen gesteuerte Fonds realisieren wollten. Die Gewerkschaften hätten damit die Unternehmen in ihrer Hand gehabt und Deutschland auf den Dritten Weg, eine Wirtschaft mit einer Arbeiterselbstverwaltung nach jugoslawischem Muster, zwingen können. Sie mussten sich entscheiden. Und sie wählten die Mitbestimmung.
Das war ein historischer Fehler. Zwar brachte die Mitbestimmung sehr schnell Kontrollrechte in den Unternehmen und einträgliche Posten für die Gewerkschaftsfunktionäre. Doch entging den Arbeitnehmern die Chance auf eine substanzielle Vermögensbildung, die ihnen heute mit einem Kapitaleinkommen ein zweites Standbein in rauer See hätte verschaffen können. Siemens hat seit der Diskussion des Themas in den Sechzigerjahren für seine Mitarbeiter freiwillige Vermögensbildungsprogramme aufgelegt. Ein Mitarbeiter, der alle Programme mitgemacht hat, verfügt heute über 1500 Euro Monatsrente. Diese Zahl gibt ein Gefühl für die Größenordnung der verpassten Gelegenheit.
Sicher, im Nachhinein ist man immer schlauer. Da die Akkumulation des Kapitals der menschlichen Arbeit eine immer höhere Hebelwirkung verschaffte und es den Gewerkschaften ermöglichte, über Lohnkontrakte wachsende Knappheitsrenten für ihre Mitglieder zu erstreiten, schien damals die Vermögensbildung entbehrlich zu sein. Wer konnte schon ahnen, dass bald der Eiserne Vorhang fallen und die Arbeiter der westlichen Länder ihrer Knappheitsrenten beraubt würden? Heute stehen nicht nur die 17 Prozent der Menschheit, die in den westlichen Industrieländern (einschließlich Südkorea und Japan) leben, dem Kapital als komplementäre Produktionsfaktoren zur Verfügung, sondern zusätzlich die 28 Prozent, die in exkommunistischen Ländern von Polen bis China beheimatet sind. Rechnet man Indien hinzu, das sich ebenfalls von seinem Zentralplanungsmodell verabschiedete, stehen heute zusätzlich 45 Prozent der Menschheit, allesamt stark motivierte Habenichtse, dem Kapital der Welt als Arbeitskräfte zur Verfügung.
Die privilegierte Position der Arbeiter des Westens ist dahin. Die Kapitalisten sind die Gewinner dieser historischen Entwicklung. Der gewaltige Wohlstandsschub, den die Globalisierung den Armen dieser Welt gebracht hat, entstand nicht nur durch Handelsgewinne, sondern auch durch eine Umverteilung der Einkommen zulasten der Arbeiter des Westens.
So ist es verständlich, dass die Gewerkschaften nun das Versäumte nachholen und ihre Klientel zu Kleinkapitalisten machen wollen, um sie im Nachhinein doch noch auf die Gewinnerseite des historischen Prozesses zu bringen. Nur: Das ist einfacher gesagt als getan, denn eine Lohnerhöhung, die mit Aktien und ähnlichen Anteilsrechten bezahlt wird, stellt für Unternehmen genauso Kosten dar wie eine Barlohnerhöhung. Allerdings bringt eine Lohnerhöhung über Aktien statt Bargeld den Unternehmen einen Liquiditätsgewinn, der ihnen in Zeiten der Kreditklemme etwas wert sein sollte. Statt den Banken hohe Zinsen für Kredite zu zahlen, könnten manche Unternehmen geneigt sein, sich die Umwandlung von Bar- in Sparlohnsteigerungen etwas kosten zu lassen. Hier liegt die Rationalität der jüngsten Gewerkschaftsvorstöße.
Noch attraktiver für die Belegschaften wäre es, wenn die Gewerkschaften bereit wären, Insider und Outsider unterschiedlich zu behandeln, indem sie mithilfe von Belegschaftsaktien eine faktische Lohndifferenzierung zwischen vorhandenen und neu hinzutretenden Mitarbeitern schaffen. Beispielsweise könnten sie einem Barlohnstopp für fünf Jahre zustimmen und für die bereits vorhandenen Mitarbeiter als Ausgleich Aktienzuteilungen aushandeln. Dies wäre eine Win-Win-Situation, wie man auf Neudeutsch sagt (in der Sprache der Ökonomen: eine "Paretoverbesserung"), die allen Beteiligten einen Vorteil gegenüber einer traditionellen Barlohnstrategie verschafft - auch den neuen Mitarbeitern, die dadurch höhere Beschäftigungschancen erhalten.
Doch die Gewerkschaften sollten sich auch an die Widerstände aus den Sechzigerjahren erinnern. Wenn sie mit Aktien oder Anteilsrechten auch Stimmrechte für die Mitarbeiter erwerben wollen, die die Position der Arbeitnehmerseite in den Aufsichtsgremien verstärken, dann werden sie bei den Unternehmen auf Granit beißen. Um nichts in der Welt werden die Eigentümer bereit sein, zusätzlich zur Mitbestimmung über die Arbeitnehmersitze auch noch die Mitbestimmung über Anteilsbesitz der Arbeitnehmer zu akzeptieren. Deswegen kann man den Gewerkschaften nur raten, klug zu sein und sich mit stimmrechtslosen Vorzugsaktien, Genussrechten und Darlehensansprüchen zu begnügen. Wenn sie mit diesen Instrumenten eine kluge Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand betreiben, könnten sie ihre Klientel ein Stück weit aus der Zwickmühle befreien, die die Globalisierung ihnen gebracht hat. Die historische Verantwortung liegt bei ihnen selbst.