Zehn Thesen über den Wandel Deutschlands zum Basar
1. Deutschland hat den großen Industriebasar der Welt. Drei Viertel der zwanzig weltweit größten Messen finden in Deutschland statt. Deutsche Unternehmen bieten eine Produktpalette an, deren Reichhaltigkeit von keinem anderen Land übertroffen wird. Deutschland ist das Land der stillen Stars im Mittelstand, die mit ihren Nischenprodukten in Hunderten von Fällen Weltmarktführer sind. Deutsche Waren sind weltweit heiß begehrt.
2. Bislang waren die deutschen Arbeiter die Alleinlieferanten für den Industriebasar, was ihre Gewerkschaften befähigt hat, extrem hohe Löhne durchzusetzen. Damit ist es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vorbei, denn von Osteuropa bis Asien stellen sich dem Kapital die ex-kommunistischen Völkerscharen als Niedriglöhner zur Verfügung, immerhin 28% der Menschheit.
3. Die deutschen Firmen nutzen die Niedriglohnangebote der Ex-Kommunisten weidlich. Gerade auch der Mittelstand bleibt wettbewerbsfähig, weil er Teile der Produktion nach Osteuropa und in andere Niedriglohnländer auslagert. Auf dem Wege der Mischkalkulation bei den Löhnen gelingt es ihm, den Koreanern, den Japanern und all den anderen Konkurrenten die Stirn zu bieten. Kein Wunder, dass der DAX von neuem Rekorde feiert und dass die amerikanischen Private Equity Fonds sich die Finger nach den stillen Stars des deutschen Mittelstands lecken.
4. Wer bei diesem Prozess freilich nicht wettbewerbsfähig bleibt, sind die deutschen Arbeiter. Die Firmen bleiben genau deshalb wettbewerbsfähig, weil sie sich der deutschen Arbeiter entledigen. Beide Parteien sitzen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht mehr in einem Boot.
5. Typischerweise verlagern die deutschen Firmen die arbeitsintensiven Teile ihrer Vorproduktketten in die Niedriglohnländer und spezialisieren sich auf die kundennahen Endstufen der Produktion. Der Karikatur, dass die Firmen nur noch die aus den Niedriglohnländern zugelieferten Teile zusammenschrauben, das Schild „Made in Germany“ darauf kleben und dann die Welt beliefern, kommt die deutsche Wirtschaft schneller näher, als viele denken. Deutschland hat zwar den größten Industriebasar der Welt, es besteht aber die Gefahr, dass es sich auf Basar-Tätigkeiten beschränkt und die industrielle Basis seines Industriebasars allmählich verliert. Von 1995 bis 2004 ist die reale Industrieproduktion um etwa 26% gewachsen, der reale Import von Vorleistungen für die Industrie stieg um 64%, doch die reale Wertschöpfung in der Industrie nahm nur um 9% zu. Gleichzeitig ist die Industriebeschäftigung im freien Fall begriffen. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs schrumpfte die Industriebeschäftigung in Deutschland schneller als in jedem anderen entwickelten Land der Erde.
6. Die Spezialisierung auf Basartätigkeiten ist zwar nicht prinzipiell falsch. Unter idealen Bedingungen kann sie im Gegenteil als Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung interpretiert werden, die die Handelsgewinne, denen unser Land bis zum heutigen Tage seinen Wohlstand verdankt, noch weiter vergrößert. Lax könnte man so formulieren: „Ein Glück, dass die Chinesen und die Polen jetzt die industrielle Drecksarbeit für uns machen, denn das gibt uns die Möglichkeit, die freigesetzten Arbeiter im Dienstleistungssektor, beim Bau oder im High-Tech-Sektor einzusetzen, wo sie höhere Wertschöpfungsbeiträge verdienen können.“
7. Doch sind die idealen Bedingungen nicht erfüllt. Insbesondere sind die deutschen Löhne viel zu starr und zu hoch, als dass das Land zu einer solchen effizienten Reaktion in der Lage wäre. Die Fakten widersprechen dem naiven Optimismus mancher Volks- und Betriebswirte, und sie widerlegen auch die positiven Einzelbeispiele, die man in einer großen Wirtschaft zur Genüge finden kann. Von 1995 bis 2004 sind in Vollzeitäquivalenten gerechnet 1,09 Millionen Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe verschwunden. Wäre dies Teil einer effizienten Reaktion auf die Kräfte der Globalisierung, müssten im Rest der Wirtschaft entsprechend viele neue Stellen entstanden sein. So aber ist es nicht. Vielmehr ging auch dort die Beschäftigung um 170 Tausend Personen zurück. Statt in den High-Tech-Sektor oder in das Dienstleistungsgewerbe gingen die freigesetzten Industriearbeiter in die Arbeitslosigkeit. Von neuen Handelsgewinnen durch eine weitere Verbesserung der internationalen Arbeitsteilung keine Spur!
8. Viele Beobachter lassen sich von den deutschen Exportziffern beeindrucken und halten sie für den ultimativen Beleg deutscher Globalisierungsgewinne. Diese Auffassung ist aus zwei Gründen falsch. Erstens führt der Basar-Effekt zur Aufblähung der Exportmengen in Relation zur exportinduzierten Wertschöpfung. Ein Prozent Zunahme der Wertschöpfung im Export induziert in Deutschland etwa 1,3 Prozent Zunahme der Exportmengen. Der Basar-Effekt macht die deutsche Wirtschaft zu einem Durchlauferhitzer, der eine wachsende Menge von Waren durch das Land und damit durch die deutschen Exportstatistiken schleust. Wegen der marktfremden Kräfte, die die Löhne auf einem überhöhten Niveau festzurren, ist der Basar-Effekt und mit ihm der Warendurchfluss pro Einheit Wertschöpfung zu hoch.
9. Zweitens ist auch die Wertschöpfung im Export überhöht. Die hohen Löhne vernichten die arbeitsintensiven Produktionsprozesse und treiben das dort beschäftigte Kapital und die Arbeit in die kapitalintensiven Exportsektoren, wo sie noch am ehesten zu verkraften sind. Sie erzeugen eine übermäßige Spezialisierung des Landes auf kapitalintensive Produktionsprozesse und damit einen pathologischen Boom der exportinduzierten Wertschöpfung. Pathologisch ist dieser Boom, weil er mit einer allgemeinen Wachstumsschwäche und einer Massenarbeitslosigkeit einhergeht.
10. Zu einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung kann Deutschland nur dann zurück kehren, wenn man die Löhne flexibel macht. Damit aus der Flexibilität kein soziales Problem erwächst, muss freilich zugleich ein System der Lohnzuschüsse eingerichtet werden, mit dem das Einkommen der Geringverdiener über ihren Lohn hinaus erhöht wird. Das vom Bundespräsidenten empfohlene Modell der aktivierenden Sozialhilfe weist einen praktikablen Weg dorthin.
Die Replik des Sportwagenherstellers (von Anton Hunger, Direktor Kommunikation bei Porsche) finden Sie in der FAZ vom 16.10.2005, S. 42