In der Zeit leerer öffentlicher Kassen wird die alte Idee der Autobahnvignette neu propagiert. Offenbar findet auch die sich formierende große Koalition diese Idee angesichts der Milliarden Euro, die dadurch zusammenkommen könnten, verlockend. Allerdings wird der Widerstand dagegen groß sein. Freie Fahrt für freie Bürger" wird wieder die Devise des ADAC sein, wenn er seine Verteidigungsfront organisiert. Die Straße gehört allen. Sie darf den Bürger nichts kosten, weil er sie ja schon einmal mit seinen Steuern bezahlt hat.
Der ADAC wird sich bescheiden müssen, denn seine Argumente führen nicht weit. Erstens muss das Budgetdefizit des Staates ohnehin irgendwie geschlossen werden. Entweder müssten ohne die Mauteinnahmen zusätzliche Steuern erhoben werden, oder es müssten Ausgaben gekürzt werden, die dem Bürger sonst zugute gekommen wären. Zahlen muss der Bürger so oder so.
Zweitens, und das ist der entscheidende Punkt, haben Gebühren für die Straßennutzung eine wichtige Lenkungsfunktion. Bisher herrscht auf den Autobahnen noch der schiere Kommunismus. Kein Wunder, dass ihre Bewirtschaftung nicht funktioniert und alltäglich wieder von Neuem das Verkehrschaos ausbricht. Deutschlands Staukosten in Form von Zeitverlusten und unnötigem Spritverbrauch dürften bei jährlich etwa 120 Milliarden Euro liegen.
Das Problem ist, dass ein Preis zur Rationierung des knappen Platzes auf der Autobahn fehlt. Die Autobahnnutzung wird unter den Interessenten nach Maßgabe ihrer Stautoleranz verteilt, ähnlich wie im Kommunismus seinerzeit die Milch nach der Standfestigkeit der Beine. Die Fernsehbilder von den Menschen, die sich um ein Uhr nachts vor die rumänischen Milchläden stellen mussten, um des Morgens um sieben bedient zu werden, sind von gleicher Qualität wie die Bilder von den Urlaubern, die wegen Staus auf der Autobahn campieren. Die Milch geht nicht an den, der sie wegen seiner schwachen Beine am dringendsten benötigt. Die freie Fahrt auf der Autobahn bekommt nicht der, dessen Zeit knapp und teuer ist und der sein Ziel unbedingt pünktlich erreichen muss. Diese Fehlallokation muss ein Ende haben. So wie sich die Marktwirtschaft bei der Verteilung der Milch unter den Kunden auf den Preismechanismus verlässt, sollte sie auch bei der Verteilung der Straßenutzung unter den Autofahrern auf die Straßenmaut setzen.
Damit die Maut ihre Lenkungsfunktion optimal erfüllen kann, sollte sie zeitlich gestaffelt sein. Wer unbedingt zur Stoßzeit fahren will, muss mehr zahlen als der, der bereit ist, sein Ziel nachts anzusteuern, wenn die Straßen leer sind. Deswegen kann eine Vignette nur der erste Schritt sein. Viel besser wäre es, das GPS gestützte Mautsystem anzuwenden, das ja mittlerweile bei den Lkws bestens funktioniert. Das brächte nicht nur technische Vorteile bei der Abwicklung und Kontrolle des Inkasso. Vielmehr ließe sich der Verkehrsfluss durch die Mauthöhe steuern, sodass stets jene Autofahrer zum Zuge kommen, denen die Fahrt am wichtigsten ist und die deshalb am meisten dafür zu zahlen bereit sind.
Die richtige Mautgebühr ist gerade so hoch, dass sie die so genannten Ballungsexternalitäten abdeckt, also den Nachteil des Zeitverlustes bei anderen Verkehrsteilnehmern, der dadurch entsteht, dass ein zusätzliches Auto die Autobahn befährt. Wenn beispielsweise 1000 Autofahrer je eine Sekunde später zum Ziel kommen, weil ein Autofahrer sich entschließt, die Autobahn auch noch zu nutzen, dann entstehen bei Stundenlohnkosten von etwa 28 Euro bei jeder Fahrt externe Ballungskosten von acht Euro. So hoch müsste die Maut in diesem Beispiel sein. Wem die Straßenutzung mehr wert ist als diese acht Euro, der wird fahren, und er sollte führen. Und wem sie weniger wert ist, der wird anders versuchen, sein Ziel zu erreichen, und auch das ist gut so.
Sicherlich mag ein Problem der Verteilungsgerechtigkeit entstehen. Der Reiche kann sich die Fahrt in der Stoßzeit eher leisten als der Arme, der im Zweifel zu anderen Zeiten fahren wird. Aber dieses Problem muss wie bei der Milch durch das staatliche Steuer- Transfer-System gelöst werden. Der Staat gibt ja auch die Milch nicht kostenlos ab. Stattdessen korrigiert er die primäre Einkommensverteilung so, wie er es für gerecht und effizient hält, und dann überlässt er es den Individuen, für welche Güter und Dienstleistungen sie ihr Geld ausgeben.
Die Staus ließen sich durch eine richtig bemessene Maut weitgehend vermeiden. Man bezahlt die Autobahn zwar mit Geld, aber dafür muss man weniger Zeit aufwenden. Das macht die Sache für die Bürger im Endeffekt vielleicht sogar billiger. Auf jeden Fall hat der Staat mehr Geld, das er den Bürgern wieder zugute kommen lassen kann. Insofern sind die Bürger die Gewinner. Das sind sie auch deshalb, weil weniger Straßenbau erforderlich ist, als man bisher für nötig hielt. Ginge es nach dem ADAC, so müsste der Staat die Verkehrsentwicklung stets durch zusätzlichen Straßenbau so begleiten, dass trotz eines Nutzungspreises von null kein Stau entsteht So wurde ja bisher in Deutschland verfahren. Das ist nicht effizient, weil die Abwägung zwischen Kosten und Nutzen verzerrt ist.
Man stelle sich vor, Mercedes-Autos wären umsonst zu haben. Dann würden sich riesige Schlangen vor den Sindelfinger Werkstoren bilden. Nach der Devise des ADAC müsste man so viele neue Autos produzieren, bis die Schlangen wieder verschwinden. Nein, so kann eine Markt wirtschaft nicht funktionieren. Was knapp ist, muss einen Preis erhalten. Man kann nicht nachproduzieren, bis die Knappheit beseitigt ist. Das geht nur im Schlaraffenland. Alles in allem kann man deshalb die Initiative zur Erweiterung der Autobahnmaut, die durch knappe Kassen initiiert wurde, auch aus einer allokativen, marktwirtschaftlichen Sicht nur begrüßen.