Während sich die Weltwirtschaft allmählich wieder aufrichtet, schnellen die Arbeitslosenzahlen in den USA weiter in die Höhe. Das ist ein untrügliches Zeichen für die Hartnäckigkeit dieser Krise. Noch alarmierender ist die Lage am US-Finanz- und -Immobilienmarkt. So ist der private Markt für immobilienbesicherte Verbriefungen von 2006 bis 2009 um 97 Prozent geschrumpft - von etwa 1900 Milliarden Dollar Neuemissionen auf gerade mal 50 Milliarden. Auch der private Markt für nicht verbriefte Hypothekenkredite ist praktisch zusammengebrochen. Ersatz hat der Staat geschaffen. 95 Prozent der Immobilienkredite, die in den USA ausgegeben werden, laufen derzeit über die staatlichen Institutionen Fannie Mae, Freddie Mac und Ginnie Mae. Früher nannte man Volkswirtschaften, deren Immobilienfinanzierung zu solchen Prozentsätzen in Staatshand waren, sozialistisch. "Volksrepublik Amerika" kann ich dazu nur sagen.
Die immobilienbesicherten Verbriefungen umfassen Mortgage Backed Securities (MBS) und darauf aufbauende Collateralized Debt Obligations (CDO). MBS sind verbriefte Forderungen gegenüber einem Bündel von Immobilienkrediten. Diese Forderungen erinnern auf den ersten Blick an Pfandbriefe, sind aber alles andere als das. Pfandbriefe sind schuldrechtliche Ansprüche gegen eine Bank, die zusätzlich mit einer Immobilie besichert sind. Der Inhaber eines Pfandbriefs kann die emittierende Bank vor den Kadi ziehen, wenn sie das Geld zum Ende der Laufzeit nicht zurückzahlt. Wenn die Bank pleite ist, kann er sich an die Immobilieneigentümer halten, die die erhaltenen Kredite zurückzahlen müssen. Und wenn die nicht zahlen können, hat er einen Anspruch gegen die Immobilien selbst. Der Inhaber eines MBS-Papiers hat demgegenüber keinen Anspruch gegen die emittierende Bank, sondern nur gegen die besicherten Immobilien. Er hat zwar formal einen Anspruch gegen die Kreditnehmer, aber dieser Anspruch hängt in der Luft, weil sich die Kreditnehmer wegen der Regressfreiheit der Kredite jederzeit der Rückzahlungsverpflichtung entziehen können, indem sie ihr Haus mitsamt des erhaltenen Kredits an die Bank zurückgeben - was Millionen von Amerikanern in letzter Zeit getan haben.
Die immobilienbesicherten Wertpapiere waren Mogelpackungen höchsten Grades. Zunächst haben viele Hausbesitzer geschummelt, indem sie mit den Hausverkäufern Cash-Back-Kredite vereinbart haben. Um von der Bank einen höheren Kredit zu bekommen, wurde ein überhöhter Kaufpreis in den Kaufvertrag geschrieben, und schon bei der Unterschrift schob der Verkäufer dem Käufer einen Teil des Geldes ohne Beleg wieder über den Tisch. Sodann wurden bei der Weiterverwurstelung der MBS-Papiere zu CDO-Papieren Honorare mit eingeschoben, sodass die Wurst am Ende dicker war als das Fleisch, das vorne hinein kam. In Einzelfällen wurden Ansprüche sogar Dutzende Male hintereinander verbrieft. Zusammen mit der Regressfreiheit der Immobilienkredite sowie einer ohnehin sehr geringen Bonität vieler sozial schwacher Kreditkunden führte dies zu einer massiven Unterdeckung der Ansprüche, sodass die in die weite Welt verkauften Papiere weitgehend Luftnummern waren. Heute liegt der Marktpreis der mit der Bestnote AAA bewerteten festverzinslichen CDO-Papiere bei gerade mal einem Drittel des Nennwertes. Der Preis wird sich vermutlich nie wieder erholen, weil der institutionelle Schwindel inzwischen aufgedeckt ist.
Erst 40 Prozent der abschreibungen Realisiert Besonders viele der toxischen Papiere sind in Deutschland gelandet, und das nicht nur bei den Landesbanken. Dadurch sind die Banken geschwächt, und die Kreditvergabe wird behindert. Die Bundesregierung hat beschlossen, zehn Milliarden Euro für den Kauf solcher Papiere aufzuwenden. Wenn der Aufkauf zum Buchwert geschieht, wie er in den Bilanzen steht, wird die Bundesrepublik mit einem Schlag mindestens etwa 3,3 Milliarden Euro, vielleicht sogar das Doppelte verlieren. Die Bilanzwerte stammen nämlich noch vom Juli 2008 oder früheren Perioden, unter anderem weil die EU den Banken im Herbst letzten Jahres nach der Pleite von Lehman Brothers die Möglichkeit gegeben hatte, die Papiere rückwirkend vom Handels- in das Anlagebuch umzuschreiben.
Die Tragweite dieser Ereignisse können wir heute noch gar nicht ermessen. Zum einen ist das deutsche Bankensystem sehr viel mehr geschädigt, als es die Bankbilanzen bislang zeigen. Kaum mehr als 40 Prozent der nötigen Abschreibungen auf die toxischen Papiere sind bislang realisiert. 60 Prozent stehen noch aus, was bedeutet, dass die deutschen Banken mehr als die Hälfte ihres Eigenkapitals (175 Milliarden von 305 Milliarden Euro) verlieren. Zum anderen hat Amerika einen solch massiven Schlag erhalten, dass es noch lange am Boden liegen bleiben könnte. Die Mutation des Kasino-Kapitalismus zur Volksrepublik ist atemberaubend. Wolfgang Schäuble hat vielleicht ein wenig übertrieben, wenn er die Finanzkrise wichtiger für die Weltgeschichte einstuft als den Fall der Mauer. Dennoch gehen die Dimensionen der Krise weit über das hinaus, was man noch vor Monaten für möglich gehalten hätte. So positiv die Börsenmeldungen und Wachstumszahlen in letzter Zeit waren, so schockierend sind die Hintergründe der Krise.