Wo jetzt gespart werden muß

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2005, S. 12

Gastbeitrag

von Hans-Werner Sinn

Ein Sozialstaat nimmt den Reichen und gibt den Armen. Daran würde sich durch Reformen, wie sie der Chef des Münchener ifo-Instituts im Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vorschlägt, nichts ändern. Die Voraussetzung für alle Reformmaßnahmen sei jedoch die Konsolidierung des Haushalts. 45 Milliarden Euro müßen gespart werden, Hilfen für Langzeitarbeitslose sollten deutlich gekürzt, Hinzuverdienstmöglichkeiten erweitert werden, so Sinn.
 

I. Sanierung des Budgets

Grundvoraussetzung für alle weiteren Reformmaßnahmen ist eine Konsolidierung des Haushalts. Dabei reicht es nicht, auf ein Defizit von 3 Prozent zu kommen. Deutschlands Trendwachstum beträgt nur noch ein Prozent. Mit 1,5 Prozent Inflation und dementsprechend einem nominalen Wachstum von 2,5 Prozent würde ein jährliches Budgetdefizit von 3 Prozent die Schuldenquote permanent ansteigen und gegen 120 Prozent konvergieren lassen. Die 3-Prozent-Regel unterstellt ein nominales Wachstum von mindestens 5 Prozent, denn genau bei einem solchen Wachstum läßt sie die Schuldenquote gegen 60 Prozent konvergieren. Will man diese Schuldenquote unter heutigen Voraussetzungen wieder anstreben, wie es der Maastrichter Vertrag zwingend vorschreibt, muß man das Defizit auf 1,5 Prozent beschränken.

Ausgehend von 2005, wo das Defizit ohne Sondermaßnahmen in der Gegend von 3,5 Prozent liegen dürfte, bedarf es also einer Budgetkonsolidierung im Ausmaß von 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (2250 Milliarden Euro) oder etwa 45 Milliarden Euro. Es ist politisch nicht ratsam, die notwendigen Kürzungen schrittweise zu verwirklichen, weil das den Widerstand maximieren würde. Man sollte sich gleich ein nachhaltiges Konsolidierungsziel setzen und sich nicht damit begnügen, die 3-Prozent-Regel einzuhalten. Die konjunkturelle Situation ist ideal, da nach fünf Jahren endlich eine substantielle Konjunkturbelebung in Sicht ist, die über das Trendwachstum von ein Prozent hinausführen wird. In den Abschwung hineinzusparen wäre falsch, im Aufschwung zu sparen ist genau das, was eine kluge Konjunkturpolitik verlangt.

Die zur Konsolidierung nötigen Maßnahmen umschließen:

1. die Einführung einer Pkw-Vignette für die Autobahnen von 100 Euro (Jahresbetrag)

2. Maßnahmen zur Bekämpfung des Mehrwertsteuerbetrugs (insbesondere die Einführung eines Quellenabzugssystems, das Rückerstattungen ohne vorherige Zahlung der Mehrwertsteuer durch den Vorlieferanten ausschließt)

3. eine gezielte Kürzung von Finanzhilfen des Bundes

4. einen gezielten Abbau von Steuervergünstigungen

5. eine pauschale Kürzung der restlichen Subventionen um 15 Prozent

6. die Einführung der aktivierenden Sozialhilfe.

Die folgende Liste bietet eine Abschätzung möglicher Sparmaßnahmen im Umfang von 44,3 Milliarden Euro, wie sie mittelfristig pro Jahr erzielbar sind.

 

II. Reform des Arbeitsmarktes

Deutschlands Wachstum lahmt, weil der Arbeitsmarkt kaputt ist, und nicht umgekehrt. Wir sind OECD-Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten. Beim Beschäftigungsgrad der Älteren zwischen 55 und 65 Jahren liegen wir unter den OECD-Staaten im letzten Drittel. Beide Probleme lassen sich nur lösen, indem die Lohnkosten für diese Gruppen gesenkt werden. Das geht ohne soziale Härten und ohne fiskalische Lasten für den Staat nur, wenn der Sozialstaat eine aktivierende Sozialpolitik betreibt. Er muß sukzessive vom Lohnersatz zu individuellen Lohnzuschüssen überwechseln.

Lohnersatz in Form von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe und Frührente führt zu Lohnansprüchen, die bei einer zunehmenden Zahl von Menschen über der Arbeitsproduktivität liegen und diese Menschen deshalb in die Arbeitslosigkeit treiben. Lohnzuschüsse erzeugen keine Lohnansprüche, sondern ermöglichen eine Absenkung der Löhne für einfache Arbeit, weil sie eine entsprechende Minderung des Einkommens verhindern und auffangen. Bei fallenden Löhnen für einfache Arbeit (doch nicht fallenden Einkommen) stellen die Arbeitgeber mehr Jobs zur Verfügung.

Durch die Niedriglohnkonkurrenz der exkommunistischen Länder (28 Prozent der Menschheit) gibt es keine andere Möglichkeit für unser Land. Deutschlands bisherige Sozialpolitik läßt sich gegen die Kräfte der Globalisierung nur um den Preis einer weiteren Steigerung der Arbeitslosigkeit und Zerrüttung der Staatsfinanzen aufrechterhalten. Der seit dreißig Jahren währende Trend zu immer höherer Massenarbeitslosigkeit würde fortgesetzt. Entsenderichtlinien, Mindestlohngarantien und dergleichen würden diesen Trend noch verstärken, denn immer mehr Standortentscheidungen würden zu Lasten Deutschlands getroffen. Der Investitionsstreik der deutschen Arbeitgeber würde sich verschärfen. Die deutsche Nettoinvestitionsquote ist schon heute die niedrigste unter allen OECD-Ländern. Notwendig sind daher folgende Reformen:

1. Frühverrentung bei freiem Hinzuverdienst

Heute ist die Bedingung für die Frührente, daß man aufhört zu arbeiten. Diese Bedingung sollte aufgegeben werden, dann fallen die Lohnansprüche der Älteren. Bei fallenden Lohnansprüchen werden von den Arbeitgebern mehr Stellen geschaffen. Es wird sich ein zweiter Arbeitsmarkt für Ältere herausbilden, auf dem niedrigere Löhne gezahlt und weniger aufreibende, jedoch das Wissen der Älteren beanspruchende Anforderungen gestellt werden.

Trotz der niedrigeren Löhne werden die Betroffenen keine Einkommenseinbußen erleiden, weil ihr Arbeitseinkommen zur Frührente hinzutritt. Einkommenseinbußen werden sich sogar dann vermeiden lassen, wenn, was zu empfehlen ist, bei der Frührente versicherungsmathematisch korrekte Abschläge eingeführt werden, die Verluste für den Staat ausschließen. Heute beträgt der Rentenabschlag pro Jahr 3,6 Prozent. Berücksichtigt man, daß Frührentner über eine längere Zahl von Jahren finanziert werden müssen und selbst keine Steuern und Sozialbeiträge mehr zahlen, müßte der Abschlag etwa 8 Prozent betragen. Die Altersteilzeitregeln sind zu streichen.

2. Aktivierende Sozialhilfe

Bundespräsident Horst Köhler hat der deutschen Politik die Erprobung der aktivierenden Sozialhilfe empfohlen. Das zugrundeliegende Modell wurde vom Ifo-Institut erarbeitet. Beim Arbeitslosengeld II sind heute die ersten 100 Euro Hinzuverdienst frei. Verdient jemand mehr, muß er von jedem zusätzlichen Euro Bruttoeinkommen zunächst 80 Cent als Transferentzug akzeptieren (seit 1. Oktober 2005). Es bleibt netto nur ein Fünftel vom zusätzlichen Brutto. Wer 5 Euro in der Stunde netto verdienen will, muß deshalb 25 Euro brutto verlangen. Zu diesem Lohn gibt es für gering Qualifizierte keine Stellen. Noch schlimmer ist die Problematik bei etwas höheren Einkommen. Von 800 Euro eigenem Bruttoeinkommen an liegt der Transferentzug zusammen mit den Sozialbeiträgen bei etwa 90 Cent für jeden zusätzlichen Euro Bruttoverdienst. Wer bei einer Mehrarbeit 5 Euro netto verdienen will, muß dann 50 Euro brutto verlangen.

Beim Ifo-Vorschlag der aktivierenden Sozialhilfe wären statt dessen die ersten 500 Euro Hinzuverdienst frei, ohne daß ein Transferentzug stattfindet. Die ersten 200 Euro würden sogar noch mit 20 Prozent bezuschußt: Man muß wenigstens ein bißchen arbeiten, wenn man ein Maximum an staatlichen Zuwendungen erzielen will. Von 200 Euro eigenem Verdienst an sind Sozialbeiträge zu zahlen. Jenseits von 500 Euro liegt die Gesamtbelastung durch Sozialabgaben und Transferentzug für jeden zusätzlichen Euro brutto bei etwa 70 Cent, so daß immerhin 30 Cent netto übrigbleiben. Die Abschaffung des Transferentzugs für Löhne bis 500 Euro senkt die Lohnansprüche und schafft dadurch Jobs. Wer 5 Euro netto pro Stunde verdienen will und für 500 Euro brutto arbeiten kann, braucht pro Stunde nur 5,25 Euro brutto zu verlangen, und dafür wird es Jobs in Hülle und Fülle geben.

Damit das Modell finanzierbar bleibt, muß das Arbeitslosengeld II für erwerbsfähige Bezieher, die keine Arbeit aufnehmen, im Schnitt ein Drittel gekürzt werden. Geringer sollte der relative Abschlag bei Familien sein. Derzeit liegt der Anspruch einer Familie mit zwei Kindern bei 1.550 Euro im Monat, wenn niemand in dieser Familie arbeitet. Dieser Betrag wird nach dem Ifo-Modell auf 1.130 Euro gekürzt. Wegen des freien Hinzuverdienstes von 500 Euro kann das Einkommen von 1.550 Euro trotz der sich am Markt ergebenden Lohnsenkung schon bei einer Halbtagsbeschäftigung im Niedriglohnsektor erreicht werden. Wenn jemand mehr als halbtags arbeitet, stellt er sich wegen des geringen Transferentzugs schon strikt besser als ein ALG-II-Empfänger heute.

Wer trotz der Senkung der Lohnansprüche und der neuen Jobs keine Arbeit findet, kann sich an seine Gemeinde wenden und dort für eine Beschäftigung von 42 Stunden in der Woche ein Arbeitslosengeld II in heutiger Höhe als Lohn verlangen: Die Gemeinden werden verpflichtet, Null-Euro-Jobs anzubieten. Das Arbeitslosengeld II wird zu einem Lohn für kommunale Arbeit. Nun können die Gemeinden selbst nicht in hinreichendem Umfang Stellen anbieten, wenn sie nicht mit dem lokalen Handwerk in Konkurrenz treten wollen. Deshalb sollen sie die ihnen anvertrauten ALG-II-Bezieher über Zeitarbeitsfirmen der privaten Wirtschaft zur Verfügung stellen. Die Zeitarbeitsfirmen können Honorarverträge mit ihren privaten Kunden frei aushandeln. Dabei wird es einen von Null verschiedenen Honorarsatz geben, zu dem die Zeitarbeitsfirmen praktisch alle ihnen anvertrauten Arbeitnehmer vermitteln können. Kündigungsmöglichkeiten für Arbeitsunwillige müssen freilich bestehen. Die Rückkehr zur annähernden Vollbeschäftigung im Niedriglohnsektor wäre praktisch sicher.

Finanzielle Lasten würden nicht entstehen, weil die Einnahmen aus den Zeitarbeitskontrakten und die Absenkung des Arbeitslosengelds II für Nichtarbeitende eine erhebliche Entlastung bedeuten. Im Gegenteil ist damit zu rechnen, daß der Staat rund 5 Milliarden Euro sparen würde. Das gilt auch, wenn der "Mitnahmeeffekt" in Form einer Senkung der Löhne von bereits beschäftigten gering Qualifizierten berücksichtigt wird, die ebenfalls vom Staat bezuschußt werden müssen. Heute finanziert der Staat Millionen nichtarbeitender Menschen zu 100 Prozent (41 Prozent der Erwachsenen inklusive aller Bezieher von Renten, ALG, Bafög). Auch im neuen System würde er Millionen Menschen unterhalten, aber er brauchte ihnen nur Zuschüsse zum selbstverdienten Einkommen hinzuzuzahlen. Das macht die Sache billiger.

Ein Sozialstaat nimmt den Reichen und gibt den Armen - dauerhaft. Daran würde sich durch die Reform nichts ändern. Der Kern der Reform besteht darin, daß die Bedingungen, unter denen der Staat Geld zur Verfügung stellt, geändert werden. Menschen, deren Leistungsfähigkeit zu gering ist, als daß sie sich durch ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren können, muß der Staat nach wie vor helfen, aber er darf ihnen nicht mehr unter der Bedingung helfen, daß sie sich selbst nicht helfen. Im Westen hat die bisherige Lohnersatzpolitik zu einer finanziell nicht mehr beherrschbaren Finanzlage geführt. Im Osten hat sie einen wachsenden Abstand zum Westen erzeugt. Deutschlands Sozialpolitik basiert noch immer auf den utopischen Ideen der siebziger und achtziger Jahre, einer Zeit der wirtschaftlichen Stärke und Prosperität, die durch eine große Unbekümmertheit gegenüber den Gesetzen der Marktwirtschaft gekennzeichnet war. Die Geschichte wird über diese Sozialpolitik hinweggehen.

3. Tarifrecht

Die Problematik ist bekannt, wird aber in dieser Koalition nicht behandelt werden können. Die Möglichkeit, Tarifverträge als allgemein verbindlich zu erklären, das Verbot, auf betrieblicher Ebene Löhne und Arbeitsbedingungen auszuhandeln, sowie das Günstigkeitsprinzip müßten fallen. Eine ähnliche Bemerkung gilt zum Thema Kündigungsrecht.

Hans Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München